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Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. M. Goeglein
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öffnete.
    Ich hielt am Straßenrand und sah zum Geschäft hinüber.
    Es war noch keine achtundvierzig Stunden her, dass ich mein Zuhause in Trümmern vorgefunden hatte und meine Familie verschwunden war, aber trotzdem wirkte es, als ob die Bäckerei schon vor Jahrzehnten verlassen worden war. Natürlich wusste ich, dass die Tür abgeschlossen sein würde, aber es war mehr als das. Die Bäckerei sah tot aus, anders konnte man es nicht ausdrücken.
    Am liebsten wäre ich einfach wieder losgefahren.
    Aber es war nun einmal so, wie Willy gesagt hatte – ich hatte bisher noch keine Toten gesehen.
    Ich musste davon ausgehen, dass meine Familie noch lebte, und deswegen musste ich dort hinein.
    Harry hatte auf eine Art zu winseln begonnen, die mich vermuten ließ, dass er dringend Gassi gehen musste, und daher atmete ich tief durch und stieg aus. Als ich die hintere Tür öffnete, durchdrang ein ergreifendes, helles Klingen die Luft, wie ein im Schritttempo fahrender Eiswagen, der mit seiner sirenenhaften Glocke die Kinder zu sich lockt. Harry hob den Kopf, als er es hörte, hob schnuppernd die Nase und sprang dann, seine Verletzungen vergessend, mit einem langen Satz aus dem Auto. Er war so schnell, dass ich gerade noch »Harry!« hinter ihm herrufen konnte, als er in vollem Lauf über das Pflaster rannte und dabei aus vollem Hals kläffte. Über uns schoben sich dunkle Wolken ineinander und verdeckten die Sonne, und ich fühlte mich plötzlich so allein, dass ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Ich wischte sie weg, sah zum drohenden Regen hinauf und nahm dabei im Unterbewusstsein etwas wahr. Ein Telefonmast, in den Metallstützen zum Hinaufklettern hineingeschlagen worden waren. Er überragte das Dach vom Bestattungsunternehmen Cofanetto, das direkt neben der Reinigung Lavasecco lag, die sich wiederum an die Bäckerei von Rispoli & Sons schmiegte. Ich kletterte auf einen Müllcontainer, fasste nach einer der Fußstützen und zog mich hinauf, und als ich den Mast zur Hälfte erstiegen hatte, hielt ich inne und suchte mit den Augen alle kleinen Gässchen der Umgebung ab, aber von Harry war keine Spur. Die Vorstellung, dass ich nun noch ein Familienmitglied verloren hatte, war einfach zu schmerzhaft; ich schob sie beiseite und nahm mir vor, ihn später suchen zu gehen.
    Um bei der Wahrheit zu bleiben, ich war mir nicht sicher, ob es für ihn oder mich ein Später geben würde.
    Diesen Gedanken schob ich ebenfalls weg und kletterte aufs Dach des Bestattungsunternehmens.
    Aus dem Inneren des Gebäudes erklang irgendwo eine Orgel, tief und feierlich.
    Vorsichtig kroch ich über das mit Kies bedeckte Flachdach und duckte mich dabei so weit wie möglich, damit mich niemand sah. Ich befand mich vier Stockwerke über dem Boden, auf gleicher Höhe oder etwas niedriger als die Wohnhäuser in der Umgebung, und ich konnte davon ausgehen, dass hier immer irgendeine italienische Großmutter aus dem Fenster guckte. Auf einem Dach herumzuklettern, das war ohnehin schon verdächtig, aber dann auch noch eine Jugendliche mit übergroßem Sanitäterkittel, unter deren Mütze ein blutiger Verband herauslugte, das hätte sofort bei allen wachsamen Nachbarn die Alarmglocken klingeln lassen. Hastig eilte ich hinüber aufs Dach der Reinigung, fühlte einen warmen Lufthauch, der einen sauren Geruch nach Wäschestärke mit sich brachte, und sah zu dem großen Oberlicht der Bäckerei hinüber. Es lag direkt über der Küche, also direkt über dem Ofen.
    Der Moment war gekommen.
    Ich sprang aufs Dach der Bäckerei.
    Beim Blick durch das Glas sah ich nur ein weißes Viereck unter mir, den hellen Fliesenboden.
    Wie in einer Krimikomödie schlug ich hart mit dem Ellenbogen gegen das Glas. Es zerbrach, Scherben fielen auf den Boden. Ich griff durch das Loch und öffnete das Fenster, steckte dann den Kopf hinein und lauschte der Stille. Es gab keinerlei Geräusche, keine Bewegung, nur das Summen des großen Kühlschranks. Vorsichtig hielt ich mich am Fensterrahmen fest, ließ mich hinab und trat mit den Füßen um mich, damit ich in eine leicht schaukelnde Bewegung geriet. Der Kühlschrank, mein Ziel, war etwas mehr als einen Meter entfernt. Als ich endlich wie eine Trapezkünstlerin hin und her schwang, biss ich die Zähne zusammen und ließ los, und mitten im Flug merkte ich dann, dass ich es nicht schaffen würde. Es war Verzweiflung in Zeitlupe, wie ein Vogelkind, das aus dem Nest gestoßen wird und nicht weiß, wie es fliegen soll – ich

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