Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
zurückhaltende, angenehme Leute waren, selbst wenn man sie reizte. Ein Mitarbeiter, Dr. J. Reginald Huff, beleidigte unabsichtlich einen jungen Mann, als er in der Gegenwart von dessen Mutter seinen Hut nicht abnahm. Dr. Huff berichtete: ›Der Junge beschrieb mir mit breitem Lächeln en détail, was er mit einem Filetiermesser meinen Innereien antun würde, wenn ich mich nicht sofort den örtlichen Gepflogenheiten anpasste. Die Kälte seiner blauen Augen und seine Gelassenheit erschreckten mich so sehr, dass ich mich, hätte er das gefordert, nicht nur meines Hutes, sondern auch aller anderer Kleidungsstücke entledigt hätte.‹ Ähnliche Vorfälle erlebten die Forscher immer wieder – die Dorfbewohner gerieten in einen ruhigen Zorn, der andere vor Entsetzen lähmte, während sie selbst völlig gelassen blieben. Dr. Huff notierte: ›Ich habe stets große Angst vor Messern gehabt. Als der junge Mann davon sprach, mir mit einem Filetiermesser den Bauch aufzuschlitzen, war das, als ob er diese Angst in mir gelesen hatte.‹
Darüber hinaus kursierte ein Gerücht, laut dem diesem Phänomen noch eine besondere Eigenschaft zukam. Angeblich gab es eine Familie, die für ihre blauen Augen bekannt war, die genau dieselben Goldpünktchen aufwiesen wie die ihrer ägyptischen Vorfahren. Von diesen Menschen erzählte man sich, dass sie mit diesem furchterregenden Blick wirkliche Funken sprühen lassen konnten, wenn sie extreme Schmerzen litten oder besonders starke Gefühle empfanden. Zwar konnte das Forscherteam die Ausübung derartiger Kräfte nicht bezeugen, aber man stellte fest, dass es in und um Buondiavolo sehr viele Gewitter mit starken elektrischen Entladungen gab. Es war zudem auffällig, dass jedes Haus ohne Ausnahme eine Wetterfahne besaß, in die schon einmal der Blitz eingeschlagen hatte.
Über die Jahrhunderte hatten viele Völker die Insel erobert – Römer, Byzantiner, Normannen –, und sich mit den Bewohnern vermischt, bis sie schließlich zu Sizilianern geworden waren. Mit dieser ›Verwässerung des Blutes‹ erklären sich die Forscher, dass nicht jeder dieses ungewöhnliche Merkmal besitzt und dass es noch nicht einmal verlässlich bestimmten Familien zuzuordnen ist – es ist gut möglich, dass ein Mann darüber verfügt, sein Bruder aber nicht. Die Dorfbewohner betrachten es als eine Eigenschaft, die gefürchtet und respektiert wird, und viele, die sie besitzen, haben einflussreiche Ämter inne. Die örtliche Bezeichnung lautet ›il ghiaccio furioso‹, was man in etwa mit ›das brennende Eis‹ oder ›die kalte Wut‹ übersetzen kann.‹«
Kalte Wut, die Onkel Buddy nicht besitzt, und Lou auch nicht.
Urgroßvater Nunzio, ja. Grandpa Enzo, vielleicht. Mein Vater, ganz bestimmt.
Und ich … verdammt, und wie.
Es ist, als ob ich schon von diesem Phänomen gewusst hätte, bevor ich ahnte, wie man es nennt oder wo es herkommt. Zum ersten Mal erlebte ich es mit dreizehn, als mich Mandi Fishbaum eine Schlampe nannte. Ich habe nie vergessen, wie ich diese kalte Wut mit meinen Augen verströmte und Mandi vor mir zurückwich, als ob sich etwas in ihr Hirn gekrallt hatte. Ich konnte ihr Entsetzen spüren – ich kanalisierte es – und das war für sie schrecklich, machte mich aber nur stärker. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr drang eine seltsame Erinnerung an die Oberfläche. Als ich Mandi anstarrte, war ein ganz klares Bild zwischen uns erschienen: ihre Mutter, die in einem Krankenhausbett lag und eine Chemotherapie bekam. Es war, als ob wir das Bild in unseren Köpfen teilten. Inzwischen war Mandis Mutter tatsächlich an Krebs gestorben, und Mandi hatte entsetzlich darunter gelitten. Ich hatte nicht die Zukunft gesehen – viel schlimmer noch, ich hatte in den verschütteten Teil von Mandis Seele geblickt, in der das Entsetzen hauste.
Nachdenklich wog ich das Notizbuch in der Hand und erkannte, dass in mir etwas war, das die tiefsten Ängste eines Menschen absorbierte – jene, die ganz tief am Grund der Seele vergraben waren –, und sich mir sozusagen in Psycho-HD zeigte. Das Entsetzliche, das normalerweise nur durchs Unterbewusstsein wabern durfte, wurde im Kopf meines Gegenübers an die Oberfläche gezerrt und von meinem Blick zurückgeworfen. Lou hatte mir einmal gesagt, dass alle richtigen Kämpfer in ihrem Innersten etwas hatten, das in ihnen brannte, und so war es auch bei mir. Und nun wurde mir klar, dass ich mit einer Fähigkeit geboren worden war, mit der es sich
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