Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
vor Onkel Buddy in Acht zu nehmen (ein guter Tipp), aber auch auf ihn aufzupassen (das kam im Augenblick wohl eher nicht infrage), und dann erzählte er noch eine alte Anekdote, mit der er mir wahrscheinlich irgendetwas mitteilen wollte, ohne es direkt zu sagen. Offenbar konnte Nunzio besonders gut mit Tieren umgehen (wie Lou mit Harry) und hielt sich zwei ungewöhnliche Haustiere.
Zwei Ratten.
Von dieser großen, grauen Sorte mit den nackten Schwänzen, die in den Kanälen von Chicago herumschwimmen und sich dort ihr Fressen suchen.
Nunzio nannte sie Antonio und Cleopatra.
Er wusste: Wenn er sie fütterte und ihnen einen warmen Unterschlupf bot – wie den Club Molasses –, dann würden sie ihr Revier, ihre Familie und alles, was mit den Rispolis zusammenhing, mit Entschlossenheit verteidigen. Antonio und Cleopatra zeugten viele Nachkommen, und schon bald patrouillierte ihre Brut die Flüsterkneipe wie eine geheime Rotte winziger Dobermänner. Ich bin mir sicher, dass es Antonios und Cleopatras Ur-Urenkel gewesen waren, die auf dem Bahnhof witterten, dass eine Rispoli in Gefahr war, und mich retteten.
Antonio – Anthony – ist der Name meines Vaters.
Wurde er nach einer Ratte benannt?
Ist es das, was er mir sagen wollte – dass er eine geworden war?
Diese Frage kann einstweilen auch das Notizbuch nicht beantworten. In den endlosen Stunden, die ich darin gelesen habe, habe ich aber eines begriffen – das Syndikat kennt keinen Ehrenkodex, keine Treue zu einer bestimmten ethnischen Gruppe und allgemein keine Loyalität. Es geht nur um einen ständigen Zuwachs an Macht und darum, Geld zu verdienen und jeden aus dem Weg zu räumen, der versucht, es wegzunehmen. Deswegen fing Urgroßvater Nunzio wahrscheinlich auch damit an, Dinge aufzuschreiben: Er wollte sich schützen, indem er Geheimnisse und Beweise gegen andere Syndikatsmitglieder sammelte, für den Fall, dass er jemals ein Druckmittel brauchen würde.
Aber dann ging er noch weiter.
Ganz detailliert beschrieb er, wo sich die Fluchtwege in ganz Chicago befanden, notierte auch die vertraulichen Kontaktnummern namenloser, gefährlicher Verbündeter und die Passwörter, mit denen man an sie herankam, und er sorgte dafür, dass er ein Schattenheer allzeit bereiter Killer zu seiner Verfügung hatte. Grandpa Enzo und mein Dad folgten seinem Beispiel: Sie hielten all diese unschätzbar wertvollen Informationen über das Syndikat auf dem neuesten Stand. Und dann sind da noch das letzte Kapitel, »Volta« , das in irgendeiner unverständlichen Art von Italienisch geschrieben ist, und der geheimnisvolle Schlüssel, der innen im Buchdeckel klebt – in diesen Worten und in dem gezackten Stück Messing stecken sicherlich eine Menge Macht. Warum sonst hätte man sie ohne weitere Erklärungen so verborgen ablegen sollen? Diese Erkenntnis war es, die geballte Macht dieser Seiten, die mir ein Licht aufgehen ließ wie eine helle Glühbirne. Das Notizbuch ist kein Stück Familiengeschichte, und es ist auch keine Sammlung von Beweisen für kriminelle Taten.
Es ist eine Art Gebrauchsanweisung, um das Syndikat zu leiten, vom geheimen, einzelnen Boss an der Spitze bis zu dem Fußvolk auf der Straße.
Es geht eine Gefahr von diesen Seiten aus, die unversehens zuschlagen und töten kann, leise und effizient.
Es ist eine in Leder gebundene Atomwaffe, und ich werde nicht zögern, sie einzusetzen.
17
Es kam mir vor, als sei ich eine Ewigkeit um mein Leben kämpfend auf der Flucht gewesen. Von daher war es ein Gefühl der Erleichterung, wieder in die Schule zu gehen, allerdings auch ziemlich surreal; es war, als ob ich in die ruhige, geordnete Existenz der früheren Sara Jane trat. Ich stand vor unserem Klassenzimmer, das Gesicht vor Hass verzerrt, während ich darüber nachdachte, wie ich die Macht des Notizbuchs dazu einsetzen konnte, um diesen maskierten, riesigen Freak auszuschalten, als jemand »Hi« sagte.
»Hey«, knurrte ich ohne aufzusehen.
So begrüßte ich also Max, als wir uns endlich wiedersahen.
In der wilden Zeit der Flucht, in diesem Wirbelsturm aus Rennen, Zuschlagen und Lesen hatte ich mich in ein Wesen verwandelt, das einen Hauch seiner Menschlichkeit eingebüßt hatte – in ein verschlossenes, einsilbiges Mädchen mit einem dicken Schutzpanzer, das stets auf Bedrohungen gefasst und bereit war, sich zu wehren. Aber als ich Max’ Lächeln sah und seine warmen, braunen Augen, fing mein Herz wieder an zu pochen. Ich war so froh, ihn zu sehen, dass ich
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