Colin Cotterill
eicht ein Glas Eiswasser holen? Es ist heiß heute.«
»Gern.«
Er sprang in Richtung Kantine davon, und Siri verlangsamte seine Schritte. Er überlegte, was Frau Nitnoy wohl von ihm wol te. Ihre Besuche hatten normalerweise nichts Gutes zu bedeuten, dabei war er sich ausnahmsweise keiner Schuld bewusst. Sie war eine laute, recht beleibte Frau mit bedrohlich großem Busen und rol enden Hüften, die ihn an Panzerketten erinnerten. Sie war ein ranghohes Mitglied der Frauenunion und damit nicht nur körperlich, sondern auch politisch ein ausgesprochenes Schwergewicht. Außerdem nahm sie es mit den Vorschriften peinlich genau.
Es kann eigentlich nur um die Schuhe gehen, dachte er. Richter Haeng hatte ihn gemeldet und die Artil erie zu Hilfe gerufen. Sie wol te ihn zwingen, seine Füße in stinkende Plastikschuhe zu zwängen, die ihn über kurz oder lang zum Krüppel machen würden. Sie würde mit der Stoppuhr in der Hand an seinem Schreibtisch sitzen und genauestens notieren, um wie viele Minuten er seine Mittagspause überzog. Sie würde ihm mit gespielter Fröhlichkeit die Hand schütteln, sich nach seiner Gesundheit erkundigen und ihn dann kräftig herunterputzen.
Mit einem flauen Gefühl im Magen ging er unter dem MORGUE-Schild hindurch. An der Tür zu seinem Büro blieb er stehen und zählte bis drei, bevor er mutig eintrat. Dtui saß al ein an ihrem Schreibtisch und stopfte ihre Lektüre hektisch in eine Schublade.
»Frau Nitnoy?«
»In der Kühlkammer.«
Erst entgleisten seine Gesichtszüge, dann seine Gedanken. »Was?«
»Sie kam herein, kurz nachdem Sie zu Tisch gegangen waren.«
»Was ist mit ihr?« Er sank schwerfäl ig auf seinen quietschenden Stuhl.
»Sie ist tot.«
»Das wil ich doch schwer hoffen, wenn sie in der Kühlkammer liegt. Woran ist sie gestorben?«
Wie nicht anders zu erwarten, verzog sie den Mund zu einem Lächeln. »Ich bin Krankenschwester. Sie sind Pathologe. Insofern müsste ich diese Frage eigentlich Ihnen stel en.«
»Dann helfen Sie mir doch ein wenig auf die Sprünge. Wer hat sie gebracht?
Wie ist sie zu Tode gekommen?«
»Zwei Fahrerinnen von der Frauenunion. Angeblich fing sie beim Mittagessen plötzlich an zu sabbern und kippte dann aus den Pantinen. Sie haben ihr den Puls gefühlt, und sie war tot. Die Unionsärztin hat ihnen aufgetragen, sie hierherzubringen, weil al es auf eine - wie heißt das noch gleich? -nicht natürliche Todesursache hindeutet.«
Zu Siris Erstaunen empfand er zunächst kein Mitleid mit der armen Frau, sondern vor al em Erleichterung darüber, dass er nun doch keine Plastikschuhe tragen musste. Dann packte ihn die Angst. Nach zehn Monaten war dies sein erster bedeutender Fal . Viele ranghohe Parteimitglieder würden ihm dabei über die Schulter schauen. Er sann über die möglichen Konsequenzen nach.
»Weiß Genosse Kham Bescheid?«
»Er ist in Xieng Khouang. Er ist telefonisch verständigt worden. Er hat gesagt, Sie sol en schon mal mit der Obduktion anfangen. Er ist heute Abend wieder da.«
»Na, dann wol en wir mal.« Er stand auf, atmete tief durch und ging in den Sektionssaal, wo er auf Herrn Geung traf, der mit einem Glas Eiswasser und einem Papiertuch in der Hand vor der Kühlkammer stand und sich leise hin und her wiegte.
Gegen sechzehn Uhr dreißig war die äußere Leichenschau beendet. Sie hatten die Tote vermessen, aber nicht gewogen, denn sie hatten keine Waage. Anfang des Jahres hatten sie mit zwei Personenwaagen experimentiert. Siri und Geung stiegen jeder auf eine Waage, wogen erst sich selbst und hoben den Leichnam dann gemeinsam in die Höhe. Auf Grund irgendeines obskuren physikalischen Gesetzes wog die Leiche jedoch immer nur etwa die Hälfte dessen, was sie eigentlich hätte wiegen müssen. Seither verzichteten sie gänzlich auf das Wiegen.
Nach einer Weile beugte Siri sich über das Gesicht der Toten. Er rief Geung zu sich.
»Herr Geung. Sie haben eine bessere Nase als ich. Was riechen Sie?«
Geung brauchte sich nicht herunterzubeugen. Er hatte es bereits gerochen.
»Balsam.«
»Sehr gut. Ziehen wir die alte Dame erst mal aus.«
»Und Nüsse.«
»Was?«
»Balsam und Nüsse. Ich… ich rieche Nüsse.«
Siri roch weder die Nüsse, noch wusste er, was Geung damit sagen wol te, trotzdem ließ er es von Dtui notieren.
Nachdem sie Frau Nitnoys Kleidung untersucht und eingetütet hatten, fotografierten sie die Leiche. Der Kliniketat war so gering bemessen, dass eine Rol e Farbfilm für sieben Leichen reichen musste,
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