Colin Cotterill
Schreibtisch und sah zu Siri herunter. »Als Mediziner sind Sie ein Mann der Wissenschaft. Aber selbst ein Wissenschaftler sol te bisweilen Rücksicht nehmen auf Kultur und Religion. Finden Sie nicht?«
Und das ausgerechnet von einem Mitglied des Komitees, das den Buddhismus als Staatsreligion abgeschafft und es verboten hatte, Almosen an Mönche zu verteilen.
»Ich…«
»Sie hat für heute schon genug Schmach erdulden müssen. Lassen wir sie in Frieden ruhen, ja?«
»Genosse Kham, ich habe die Gesetze nicht gemacht. Ich kann den Totenschein erst ausstel en, wenn zweifelsfrei feststeht, dass sie tatsächlich an Parasiten gestorben ist.«
Kham lächelte herzlich und stand auf. »Dafür habe ich natürlich vol stes Verständnis. Was hätte ich im Politbüro zu suchen, wenn ich die Vorschriften umgehen wol te?« Er ging zur Tür und blieb im Rahmen stehen. »Darum habe ich beschlossen, den Totenschein von ihrem Leibarzt unterzeichnen zu lassen.«
»Was?«
»Es tut mir leid, dass Sie sich vergeblich bemüht haben, Genosse Siri. Aber da offenbar al es mit rechten Dingen zugegangen ist, hätten Sie sich die Obduktion im Grunde sparen können. Ich muss schon sagen, dafür, dass Sie Ihre Arbeit so sehr verabscheuen, nehmen Sie es damit ziemlich genau.
Respekt.«
Er ging hinaus, und Siri blieb an Dtuis Schreibtisch zurück und ließ sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen. Kham hatte gewusst, dass er die Obduktion vornehmen würde. Er hatte telefonisch grünes Licht dazu gegeben.
Jetzt hielt er sie plötzlich für überflüssig. Siri hatte drei Stunden damit vergeudet, nach der Todesursache zu suchen. Es hätte nicht halb so lange gedauert, wenn er gewusst hätte, wonach er suchte.
Er blickte zu seinem Schreibtisch hinüber. Irgendetwas lag nicht an seinem Platz. Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte er von draußen ein Geräusch. Er warf einen letzten Blick auf seinen Schreibtisch, dann ging er hinaus, um nachzusehen, was los war.
Er traf auf eine Gruppe von Männern, die eine Trage mit einem ebenso schlichten wie überdimensionalen Holzsarg vor sich her rol ten. Kham folgte ihnen im Schatten.
»Sie wol en sie jetzt sofort mitnehmen?«
Die Männer schoben den Sarg an ihm vorbei in den Sektionssaal. Kham blieb in der Tür stehen. Dort war es finster.
»Ihre Familie wartet schon.«
Siri betrachtete den hochgewachsenen Mann, als er etwa drei Meter hinter dem Genossen eine dunkle Silhouette bemerkte. Aus irgendeinem Grund erfül te ihre Erscheinung ihn mit Grauen. Sie war nur undeutlich auszumachen, und im trüben Licht konnte er ihr Gesicht nicht recht erkennen, aber ihre Gestalt erinnerte ihn stark an - Frau Nitnoy.
Er musste an den Fischer denken, den er morgens im Halbschlaf gesehen hatte. Schon sein Anblick hatte ihm einen fürchterlichen Schrecken eingejagt.
Aber das hatte er der frühen Stunde zugeschrieben. Jetzt war er hel wach.
Dies war kein Traum. Er sah die Umrisse einer Frau, die tot in der Kühlkammer lag. Sie stand da und zitterte. Dann erstarrte sie. Sie senkte den Kopf und stürmte hinterrücks auf den Genossen los, als wol te sie ihn auf die Hörner nehmen wie ein Stier.
Sie stürzte sich mit al er Macht auf ihn und hätte ihn, wenn sie denn echt gewesen wäre, gewiss über den Haufen gerannt. Einen Sekundenbruchteil lang fiel das Licht im Sektionssaal auf ihr Gesicht. Siri hatte keinen Zweifel, dass sie es war, und zweifel os war ihre Miene hasserfül t. Kurz bevor sie mit ihrem Mann zusammenpral te, löste sie sich auf.
Genosse Kham schauderte.
»Wie halten Sie es hier bloß aus? Von der Zugluft kriegt man ja eine Gänsehaut.« Er drehte sich um und sah zu der Stel e, auf die Siri starrte. »Ist das die Kühlkammer?«
Siris altes Herz pochte wie wild. Er brachte kein Wort heraus. Mit Mühe stolperte er an Kham vorbei in den Sektionssaal, wo die Sargträger geduldig warteten. Er ging zur Kühlkammer und zog mit unsicherer Hand den Hebel herunter, der die Tür entriegelte. Langsam öffnete sie sich.
Sie war noch da, ebenso tot wie heute Mittag. Siri hätte schwören können, dass sie verschwunden war. Zitternd streckte er den Arm in die Kühlzel e und schlug das hel blaue Tuch zurück, das Frau Nitnoys Kopf bedeckte. Das Gesicht lag schlaff über dem Schädel. Weder zwinkerte sie ihm zu, noch sprach irgendetwas dafür, dass sie herumgegeistert war.
Siri steckte das Tuch an den Seiten fest, wie um Frau Nitnoys Leichnam vor den rauen Händen und Blicken der
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