Colin-Saga 01 - Der Mond der Meuterer
Blick ab. Die ganze Enklave hatte etwas Unfertiges, wie ein nur behelfsmäßig aufgeschlagenes Lager, nicht wie eine feste Behausung. Anu und seine Anhänger lebten seit fünfzigtausend Jahren auf diesem Planeten, und doch waren sie hier niemals heimisch geworden. Es war, als hätten sie ganz bewusst dafür gesorgt, immer und immer wieder daran erinnert zu werden, dass all das Gebiet rings um sie herum eben doch ›fremd‹ war. Hier unter dem Eis befanden sich bequeme Wohnblocks, die sie unmittelbar nach ihrer Landung errichtet hatten. Doch seitdem waren keine neuen mehr gebaut worden, und praktisch keiner der Meuterer nutzte sie. Sie hatten sich in ihre Schiffe zurückgezogen, blieben in den Quartieren, die ihnen an Bord zugewiesen worden waren, obwohl diese Schiffsquartiere alles andere als geräumig waren. Ninhursag wusste: Sie selbst wäre längst verrückt geworden, hätte sie so lange Zeit in derart beengten Quartieren hausen müssen.
Sie betrachtete die Fontäne, die aus einem der winzigen Springbrunnen aufstieg, die irgendjemand zu bauen sich die Mühe gemacht hatte, und dachte auch darüber nach. Vielleicht war das ein Teil dieses Wahnsinn, das hier die Luft schwängerte. All diese Leute hier hatten ihre normale Lebensspanne längst hinter sich gelassen und waren fast die ganze Zeit über in ihrer künstlichen Umgebung eingesperrt gewesen, von gelegentlichen Ausflügen in Gebiete außerhalb der Enklave einmal abgesehen. Die Körper, die sie anderen gestohlen hatten, waren jung und kräftig, aber die Persönlichkeiten, die in diesen Körpern hausten, waren alt, und die Enklave selbst hatte in etwa die Wirkung eines Dampfkochtopfs.
Es lag in der Natur der Personen, die Seite an Seite neben Anu standen, dass sie von durchaus zweifelhaftem Charakter waren, sonst wären sie jetzt nicht an diesem Ort; und im Laufe dieser endlosen Jahre ihres Exils, eingesperrt in diese winzige Welt, hatten sie ihr ganzes Denken und Fühlen auf ihr Inneres gerichtet. Sie waren allein mit all ihrem Hass und ihrem Ehrgeiz gewesen, länger als der menschliche Verstand es zu ertragen in der Lage war, und das, was einst nur leichte Charakterschwächen gewesen waren, hatte sich zu tiefen Abgründen aufgetan. Die Besten unter ihnen waren nur noch Zerrbilder dessen, was sie einst gewesen waren, während die, bei denen es am schlimmsten war …
Ninhursag erschauerte und hoffte, dass das keinem der Überwachungsmonitore aufgefallen war.
Die Gemeinschaft, der sie angehört hatte, war tot, verrottete immer weiter von innen heraus. Das würden die Mitglieder dieser Gemeinschaft niemals zugeben – vorausgesetzt, sie wären überhaupt in der Lage, das auch nur zu erkennen –, und doch waren die Anzeichen für die Wahrheit überall sichtbar. Seit fünftausend Jahren waren sie hier aktiv, und doch hatten sie nicht das Geringste für ihre Technologie-Basis getan, sie kein bisschen weiterentwickelt, von einer Hand voll höchst persönlichen, individuellen Modifikationen, einander besser auszuspionieren, einmal abgesehen. Sie waren nur wenige, doch es lag in der Natur einer jeden Gemeinschaft, sich zu verändern, neue Dinge zu erlernen. Eine Kultur, bei der das nicht der Fall war, war zum Untergang verurteilt; wurde sie nicht von einer äußeren Bedrohung zerstört, dann wandten sich früher oder später ihre eigenen Mitglieder gegeneinander, wie hier, hier, in diesem statischen Mutterschoß, in den sie sich zurückgezogen hatten. Ob sie dabei in der Lage waren, ihre Stagnation sich selbst einzugestehen oder nicht, war dabei letztendlich bedeutungslos. Denn tief in ihrem Innersten, dort wo die Lebenskraft eines Volkes, jene Kraft, die es antrieb, aus dem geboren wurde, was alle fühlten und glaubten – unabhängig davon, ob dieser Glaube formalisiert worden war oder nicht –, wussten sie, dass sie auf der Stelle traten, die Zeit einfach nur verstreichen ließen … dass ihre Gemeinschaft im Sterben lag.
Ninhursag sah die Welt jetzt mit offenen Augen, und sie sah so viele Dinge. Die Verdächtigungen, die Ambitionen, die Perversionen eines dekadenten, verfallenden Zeitalters, das sich der Dekadenz und des Verfalls voll und ganz bewusst ist. Dazu kam, und das war vielleicht das wichtigste und vielsagendste aller Anzeichen, dass es keine Kinder gab. Die Leute hier lebten nicht zölibatär, doch sie hatten ganz bewusst den einen Faktor ausgeschaltet, der sie vielleicht zu Veränderungen und einer Form der Evolution hätte zwingen können. Und
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