Collector’s Pack
der Rauch des heiligen Feuers, das die Vestalinnen hüten mussten und das niemals verlöschen durfte. Das Wohl des ganzen Reiches hing davon ab. Die sechs Vestalinnen lebten in dem Gebäudekomplex dahinter. Sie waren die höchsten Priesterinnen im Reich, stammten ausnahmslos aus den vornehmsten Familien und waren Männern rechtlich gleichgestellt, durften sogar frei über ihr Vermögen verfügen. Der Kaiser persönlich wählte sie im Alter von zehn Jahren aus. Dreißig Jahre dienten sie als Priesterinnen, mussten bei Todesstrafe keusch leben, das Feuer hüten, das Wasser aus der heiligen Quelle hinter der Stadtmauer bei Egeria holen, und sie stellten Salben für verschiedene Opferhandlungen her. Eine Vestalin hatte Anspruch auf einen Platz auf der Ehrentribüne im Amphitheatrum Flavium. Sie hatte Einfluss. Sie wurde immer von einem Liktor begleitet wie ein Konsul oder Prätor. Es war Wahnsinn, eine Vestalin zu töten.
Mit diesen Gedanken und quälenden Kopfschmerzen schlug sich Marcus Corvus herum, bis er am späten Nachmittag endlich sein Opfer aus dem Tempel kommen sah. Aemilia, die Tochter eines Senators. Sie war noch keine zwölf Jahre alt, ein zartes, fast durchscheinend blasses Kind mit schwarzen Locken und einem Blick, der immer in die Ferne gerichtet war. Ein Wesen wie nicht von dieser Welt. Obwohl sie sich erst am Anfang ihrer zehnjährigen Ausbildungszeit befand, kannte ganz Rom sie bereits. Ihre entrückte Art, ihr Ernst und ihre Konzentration bei den heiligen Handlungen hatten sie berühmt gemacht. Marcus Corvus vermutete, dass der Auftraggeber für den Mord aus den Reihen der anderen Vestalinnen oder ihrer Verwandten kam. Vielleicht wollte ein reicher Senator sie auch nur aus dem Weg schaffen, um seine eigene Tochter bei den Vestalinnen unterzubringen.
All das war Marcus Corvus bislang egal gewesen. Er hatte nie Fragen gestellt und zwang sich, es auch weiterhin so zu halten. Vergeblich. Der Zweifel hatte sich festgebissen wie ein bösartiges Insekt und fraß sich immer weiter vor.
Als Aemilia aus dem Tempel trat, trug sie einen Schleier, das suffibulum , ein großes, weißes Kopftuch und eine Stirnbinde. Ansonsten aber trug sie eine einfache ärmellose Tunika und spreizte den kleinen Finger ab, wie es alle Patrizierinnen taten. Marcus Corvus bemerkte, dass sie eine lederne Umhängetasche trug, die einen sperrigen Gegenstand zu enthalten schien. Sie wurde von einem Liktor begleitet und stieg eilig in eine bereitstehende Sänfte. Der Liktor war ein junger, kräftiger Kerl, der sein Rutenbündel trug, als ob es nichts wäre. Außerdem sah Corvus, dass er ein Schwert unter seiner Toga trug. Corvus fluchte leise und folgte der Sänfte durch das Gedränge. Er hielt sich immer im Schatten der Sänfte und kam gut hinterher, trotz des hohen Tempos, das die nubischen Träger anschlugen. Denn die Menschen wichen ehrfurchtsvoll zurück, wenn die Sänfte einer Vestalin nahte. Weder der Liktor noch sonst irgendwer bemerkte den Mann in der dreckigen Tunika und dem Umhang, unter dem er ein Legionärsschwert verborgen hielt.
Nach kurzer Zeit hielt die Sänfte vor einer baufälligen Insula . Die Vestalin stieg aus und betrat das heruntergekommene Mietshaus mit ihrem Liktor. Die nubischen Träger entfernten sich mit der Sänfte. Verwundert wartete Corvus vor dem Haus, bis er Aemilia und ihren Liktor wieder aus dem Haus kommen sah. Beide trugen jetzt einfache Kleidung. Der Liktor hatte sein Rutenbündel abgelegt und verbarg nur noch sein Schwert unter einem weiten Umhang. Aemilia trug ebenfalls einen Umhang und immer noch die lederne Umhängetasche. Das Gesicht unter einer weiten Kapuze verborgen, eilte sie weiter und tauchte in der Menge unter.
Marcus Corvus beeilte sich, ihnen zu folgen. Einer alten Angewohnheit gehorchend, wandte er sich im Laufen immer wieder um und bemerkte dabei diesen Mann, der der Vestalin ebenfalls zu folgen schien. Er war ihm aufgefallen wegen seines Hinkens und seiner roten Haare. Der Mann trug eine einfache Tunika und einen Umhang mit Kapuze, wirkte aber wie jemand aus den britischen oder germanischen Provinzen. Ein Sklave schien er nicht zu sein, dafür war die Tunika zu kostbar, außerdem trug er auch keine Eigentümerplakette um den Hals. Trotz seines Hinkens hatte der Rothaarige offenbar keine Mühe, der Vestalin zu folgen. Als Corvus sich jedoch erneut nach ihm umwandte, war er plötzlich verschwunden und tauchte auch nicht mehr auf.
Marcus Corvus folgte der vermummten Vestalin und
Weitere Kostenlose Bücher