Collector’s Pack
Corvus hatte es nur für jüdische Schwäche gehalten. Jetzt verstand er, dass er damals einen Moment der Gnade erlebt hatte. Genauso wie jetzt. Das Bild des Rabbiners löste sich auf und nahm die Gesichter all der unzähligen Menschen mit, die Corvus in seinem Leben getötet hatte und die ihn in seinen Albträumen heimgesucht hatten. Zurück blieben nur das Licht und die Zuversicht. Zweifel und Kopfschmerzen flossen von ihm ab, und mit ihnen alle Schuld. Marcus Corvus verstand, dass ihm gerade etwas geschenkt wurde, nach dem er sich ein Leben lang gesehnt hatte. Gnade. Liebe. Vergebung. Und während das Mädchen da vorne weiter in ihrer fremden Sprache zu ihm sang, wusste er, dass es sogar für jemand wie ihn Erlösung gab.
Marcus Pinarius Corvus glaubte. Er glaubte an die Liebe des einen und wahrhaftigen Gottes, dessen Sohn für ihn am Kreuz gestorben war. Mit dieser Gewissheit der Liebe Gottes im Herzen wollte er sich eben durch die Menge drängen und vor der kleinen Vestalin niederknien, als er neben sich einen erstickten Schrei hörte. Corvus wandte sich um und sah eine Frau mit ihrem Kind auf dem Arm, die lichterloh in Flammen stand, als wäre sie eine pechgetränkte Fackel. In diesem Moment brach die Hölle um ihn herum los. Ein alter Mann fing Feuer und wälzte sich schreiend am Boden. Um ihn herum entzündeten sich Menschen wie von unsichtbaren Blitzen eines wütenden Gottes getroffen. Im Nu war der kleine Innenhof erfüllt von Schreien und dem Gestank von verbranntem Fleisch. Nur Aemilia rührte sich nicht. Marcus Corvus drängte sich durch die panische Menge, vorbei an den brennenden Menschen. Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung. Von der Seite stürzte der hinkende Rothaarige auf die Vestalin zu, ein Kurzschwert in der rechten Hand. Corvus sah, wie der Liktor, der ebenfalls bereits brannte, aufsprang und versuchte, den Rothaarigen noch abzufangen. Doch der Mann streckte den brennenden Liktor mit einem Schwertstreich nieder. Marcus Corvus zog sein Schwert und stürzte nach vorn. Kurz bevor der Rothaarige das Mädchen erreicht hatte, fing er ihn ab und stieß ihm sein Schwert von hinten in den Rücken bis durch die Brust. Ohne einen einzigen Schrei stürzte der Attentäter zu Boden. Sein Blut spritzte auf das blasse Mädchen, das die Attacke regungslos erwartet hatte.
Ringsum schrien brennende Menschen. Corvus sah, wie sich ihre Haut abschälte, hörte, wie ihr Fleisch zischte. Er erwartete, selbst jeden Moment in Flammen zu stehen, wollte das Mädchen packen und in Sicherheit bringen. Doch sie wehrte ihn ab.
»Lass mich, Marcus Corvus«, sagte sie leise. »Du kannst mich nicht retten.«
»Ihr kennt meinen Namen?«, rief Corvus entgeistert.
»Ich kenne ihn schon mein Leben lang. Der Rabe wird kommen, dich zu retten, heißt es in der Schrift.«
»Welche Schrif…?«
»Schweig, Marcus Corvus!«, sagte sie so sanft, als nehme sie das Inferno überhaupt nicht wahr. »Ich habe nicht mehr viel Zeit. Du musst etwas für mich tun.«
»Was immer Ihr befehlt.«
Mit einer raschen Handbewegung nahm sie das blaue Amulett von ihrem Hals und drückte es Corvus in die Hand. Corvus sah, dass auf einer Seite ein Spiralsymbol eingraviert war.
»Hüte es mit deinem Leben«, sagte das Mädchen. »Und das hier auch.«
Sie griff in ihre lederne Umhängetasche vor ihr auf dem Boden und zog ein längliches, schmales Holzkästchen heraus, auf dem ebenfalls das Spiralsymbol eingebrannt war. Hastig beschrieb sie ihm, wo er die beiden Gegenstände verstecken sollte und deutete auf den toten Rothaarigen in seiner Blutlache.
»Beeil dich. Bevor er wieder erwacht.«
»Er ist tot!«
»Tu, was ich sage, Marcus Corvus.«
Sie schob ihn sanft von sich und sah ihn an mit einem Blick, in dem mehr Liebe und Trauer lag, als Corvus ertragen konnte. Im selben Moment fing auch sie Feuer.
Corvus wollte sich auf sie stürzen, um das Feuer mit seinem Körper zu löschen, doch sie wehrte ihn ab.
»Geh!«, schrie sie ihn an. »Im Namen Gottes, geh!«
Marcus Corvus wusste nicht, wie er es aus dem Inferno geschafft hatte. Er wusste auch nicht, auf welchen Wegen er durch das stockfinstere Rom, den Palatin hinunter bis zum Marsfeld gelangt war. Er sah immer nur das Bild des brennenden Mädchens vor sich, seiner Erlöserin. Das Erste, was er wieder bewusst wahrnahm, war der Schatten eines großen Rundbaus mit einer gewaltigen Kuppel, der im Dunkel des Marsfeldes vor ihm aufragte. Der Tempel, den Kaiser Agrippa auf den Ruinen eines
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