Collector’s Pack
Sie hatte schwarze Haare und wirkte unverletzt. Bühler wusste sofort, wer sie war. Möglichweise hatte sie sich im Haus vor Kelly verstecken können. Bühler hörte, wie Nikolas ihren Namen rief, als er sie erkannte. Die Frau fiel ihm um die Hals. Nikolas schob sie sofort auf den Beifahrersitz, und ohne noch einmal zu Bühler zu sehen, sprang er ans Steuer und raste los.
Bühler sah dam Wagen hinterher, bis er um die nächste Ecke verschwunden war. Es war ihm egal. Nikolas war ihm egal, Marina sowieso und sogar Peter Adam. Sie mussten tun, was sie tun mussten, genauso wie er. Und seine Aufgabe stand ihm nun klar vor Augen. Er musste Edward Kelly finden. Er musste den Löwenmann töten. Endgültig, für alle Zeit. Und er hatte auch bereits eine Ahnung, wo er ihn finden würde. Er musste bloß Leonies Zeichnungen folgen.
XXX
5. Juli 2011, Yangon, Birma
D ie Geschichten, die Ioona ihm erzählt hatte, verwirbelten in Peters Kopf, verfilzten und verwoben sich, bis er sie kaum noch voneinander unterscheiden konnte und sie sich wie ein einziges unentwirrbares Knäuel ausnahmen. Geschichten vom Anbeginn der Welt, über ein uraltes Volk namens Mh’u, über einen Neandertalerclan, eine uralte Frau, eine Elfenbeinfigur und den Mord an einem bronzezeitlichen Kupferschmied. Die Wahrheit über Moses und Nofretete und einen Mann namens Yeshua Bar Rabban. Überhaupt: die Wahrheit! Die Wahrheit über das, was die Templer im Sand der judäischen Wüste fanden und die Wahrheit über das Geheimnis, das die Kirche seit Jahrhunderten um jeden Preis hütete. Die Wahrheit über John Dee und Edward Kelly. Die Wahrheit über die Amulette. Über das Buch Dzyan und seine Tätowierung. Über Franz Laurenz, den Papst, über Seth, über die Träger des Lichts und die Bruderschaft des Heiligen Schwertes. Die Wahrheit über sich selbst und Nikolas. Die Wahrheit über das Böse.
Die Wahrheit. Glaubst du das wirklich?
Die ganzen sechzehn Stunden dieses schier endlosen Fluges hatten nicht gereicht, um all das zu verarbeiten, zu verdauen und zu akzeptieren. Es war einfach zu viel. Sie hatte schnell gesprochen, wie in großer Hast, als ob sie ahne, nicht mehr viel Zeit zu haben. Sie hatte alles loswerden wollen, die ganze Bürde, die ihr die Schwarze Sara ein Leben lang auferlegt hatte. Ioona hatte die Tätowierung gedeutet und ihm genau erklärt, was er als Nächstes tun musste. Peter wunderte sich, wie ruhig er blieb. Jetzt, wo er alles wusste. Er hatte sogar einige Stunden schlafen können, bevor er in Bangkok das Flugzeug wechselte.
Den Koffer hatte er nur dabei, um nicht noch mehr aufzufallen. Immerhin reiste er in eine der verrufensten Militärdiktaturen der Welt ein, und selbst mit Diplomatenpass würde er ohne Visum nicht einreisen können. Daher begab sich Peter nach der Landung unverzüglich zum Immigrationsbüro des internationalen Flughafens von Yangon und beantragte ein Visum. Das Büro war klein und wurde zu allen Seiten von Regalen mit nachlässig sortierten Akten mit birmanischer Aufschrift beherrscht. Hinter einem wackeligen Schreibtisch thronte ein kleiner Mann in einer schmuddeligen weißen Operettenuniform. Er gab sich streng und korrekt, doch Peter sah an seinen rötlich verfaulten Zähnen, was mit ihm los war.
Ein Betel-Junkie.
Hinter dem Immigration-Officer stapelten sich abgenutzte schwarze Akten mit der Aufschrift »Blacklist«. Außer Peter warteten noch ein australischer Traveller und eine Holländerin mit geschorenem Kopf und der rosafarbenen Tracht einer buddhistischen Nonne auf ein Visum. Der Immigration-Officer blätterte in Peters nagelneuem Diplomatenpass vor und zurück und stellte dem vermeintlichen Paul DeFries Fragen zum Zweck und der Dauer seines Aufenthalts. Er fragte nach seinem Hotel und nannte verschiedene Botschaftsangehörige.
»Kenne ich nicht«, erwiderte Peter jedes Mal, überzeugt, dass der birmanische Beamte die Namen frei erfand.
Nach zwei Telefonaten erhielt Peter schließlich das Visum und war sicher, dass er fortan auf Schritt und Tritt von Beamten der Geheimpolizei überwacht werden würde. Das ließ sich nicht ändern. Peter hatte es eilig. Er wollte am nächsten Tag bereits wieder in der Maschine nach Singapur sitzen.
»Sule-Pagode«, sagte er zu dem Taxifahrer im karierten Longji , einem knöchellangen Schlauchrock, der vor dem Bauch kunstvoll verknotet wurde. Mit dem weißen Hemd darüber wirkte der Mann absolut korrekt gekleidet. Auf der Fahrt ins Zentrum sah Peter, dass die Frauen
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