Collins, Suzanne
hätte dich
ertränken sollen, als es noch nicht zu spät war.« Er legt die Ohren an und hebt
eine Pfote. Ich fauche ihn an, bevor er es tut. Das ärgert ihn, er findet,
Fauchen sollte ihm vorbehalten sein. Im Gegenzug maunzt er wie ein hilfloses
kleines Kätzchen und meine Schwester springt ihm sofort zur Seite.
»Ach, Katniss, ärgere ihn nicht.« Sie nimmt ihn wieder in
die Arme. »Er ist doch so schon außer sich.«
Bei der Vorstellung, dass ich die zarten Gefühle dieses
Mistkaters verletzt habe, kriege ich schon wieder Lust, ihn zu ärgern.
Aber Prim ist wirklich verzweifelt. Also stelle ich mir
nur vor, wie sein Fell ein Paar Handschuhe ziert, ein Bild, das mir über die
Jahre geholfen hat, ihn zu ertragen. »Na gut, tut mir leid. Wir sind unter dem
großen E an der Wand. Such ihm lieber ein
Plätzchen, bevor er ausrastet.« Eilig geht Prim weg und jetzt stehe ich Gale
direkt gegenüber. In den Händen hält er den Arzneikasten aus unserer Küche in
Distrikt 12. Wo unser letztes Gespräch stattfand, unser letzter Kuss, unser
letzter Streit, egal. Er trägt meine Jagdtasche über der Schulter.
»Wenn Peeta recht hat, hätten die Sachen nicht überlebt«,
sagt er.
Peeta. Blut wie Regentropfen am Fenster. Wie feuchte Erde
an den Stiefeln.
»Danke für ... alles.« Ich nehme die Sachen. »Was hast du
in unseren Räumen gemacht?«
»Nur noch mal alles kontrolliert«, sagt er. »Wir sind in
siebenundvierzig, falls du mich brauchst.«
Als die Tür geschlossen wurde, haben sich fast alle auf
ihre Plätze verzogen, und jetzt schauen mir mindestens fünfhundert Leute zu,
wie ich mich zu unserem neuen Zuhause begebe. Um meine Panikaktion von vorhin
wiedergutzumachen, versuche ich jetzt, besonders ruhig und besonnen zu wirken.
Als könnte ich irgendjemandem etwas vormachen. Ein tolles Vorbild bin ich.
Aber was soll's? Die Leute halten mich sowieso alle für verrückt. Ein Mann, den
ich vermutlich umgestoßen habe, fängt meinen Blick auf und reibt sich empört
den Ellbogen. Am liebsten würde ich ihn auch anfauchen.
Prim hat Butterblume auf die untere Koje gesetzt und in
eine Decke gewickelt, sodass nur sein Kopf herausguckt. So hat er es gern bei
Gewitter, das Einzige, wovor er sich richtig furchtet. Meine Mutter stellt
ihren Arzneikasten sorgfältig in das quadratische Fach. Mit dem Rücken zur Wand
kauere ich mich hin und schaue mir an, was Gale alles in meine Jagdtasche
gepackt hat. Das Pflanzenbuch, meine Jagdjacke, das Hochzeitsfoto meiner
Eltern und die persönlichen Sachen aus meiner Schublade. Meine
Spotttölpelbrosche steckt jetzt ja immer an dem Kostüm, das Cinna für mich
gemacht hat, aber da sind das goldene Medaillon und der silberne Fallschirm mit
dem Zapfhahn und Peetas Perle. Ich verknote die Perle im Zipfel des
Fallschirms und stecke sie ganz tief in meine Tasche, als wäre sie Peetas Leben
und niemand könnte sie wegnehmen, solange ich darauf aufpasse.
Das ferne Geräusch der Sirenen bricht abrupt ab. Über die
Lautsprecher des Distrikts ist Coins Stimme zu hören, sie dankt uns allen für
eine vorbildliche Evakuierung der oberen Stockwerke. Sie betont, dass es sich
nicht um eine Übung handele, da Peeta Mellark, der Sieger aus Distrikt 12, im
Fernsehen vor einem Angriff auf 13 gewarnt habe, der möglicherweise heute Nacht
bevorstehe.
In diesem Moment fällt die erste Bombe. Erst gibt es einen
heftigen Schlag, gefolgt von einer Detonation, die in meinem Innersten
nachhallt, in meinen Eingeweiden, im Knochenmark, in den Zahnwurzeln. Wir werden
alle sterben, denke ich. Mein Blick wandert nach oben, ich rechne
damit, gewaltige Risse in der Decke zu sehen, dicke Gesteinsbrocken, die auf
uns herabregnen, aber der Bunker bebt nur ein wenig. Die Lichter gehen aus,
und ich erlebe, wie orientierungslos man in völliger Dunkelheit ist. Die Laute
der Menschen, die keine Worte für das Geschehen haben - spontane Schreie,
unregelmäßiges Atmen, das Wimmern von Babys, der Fetzen eines irren Lachens -,
tanzen in der aufgeladenen Atmosphäre umher. Dann das Summen eines
Generators, ein schwaches Flackern, so ganz anders als die grelle Beleuchtung,
die in Distrikt 13 üblich ist. Es ist fast wie damals zu Hause in Distrikt 12,
beim schwachen Schein von Kerzen und Kaminfeuer in einer Winternacht.
Im Zwielicht strecke ich den Arm nach Prim aus, halte mich
an ihrem Bein fest und ziehe mich zu ihr hinüber. Mit fester Stimme spricht sie
beruhigend auf Butterblume ein. »Schon gut, Kleiner, alles ist gut. Hier
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