Collins, Suzanne
unten
kann uns nichts passieren.«
Meine Mutter nimmt uns in die Arme. Einen Augenblick lang
gestehe ich mir zu, mich klein zu fühlen, und lege den Kopf auf ihre Schulter.
»Nichts im Vergleich zu den Bomben in Distrikt 8«, sage ich.
»Wahrscheinlich eine Bunkerbombe«, sagt Prim. Dem Kater zuliebe
spricht sie immer noch mit sanfter Stimme. »Bei der Einführungsveranstaltung
für Neubürger haben wir davon gehört. Sie dringen tief in die Erde ein, bevor
sie losgehen. Weil es ja schon lange keinen Grund mehr gibt, die Oberfläche von
13 zu bombardieren.«
»Atombomben?«, frage ich und merke, wie es mich kalt
durchläuft.
»Nicht unbedingt«, sagt Prim. »Manche enthalten nur eine
Menge Sprengstoff. Aber ... es könnte wohl beides sein.«
In dem Dämmerlicht ist die schwere Stahltür am Ende des
Bunkers kaum zu erkennen. Würde sie uns vor einem atomaren Angriff schützen?
Und selbst wenn sie, was sehr unwahrscheinlich ist, die Strahlung zu hundert
Prozent abschirmen würde, könnten wir dann je wieder hier raus? Die
Vorstellung, den Rest meines Lebens in dieser Gruft zu verbringen, ist
entsetzlich.
Ich verspüre den Drang, wie eine Verrückte zur Tür zu
rennen und zu verlangen, dass sie mich rauslassen, was auch immer mich dort
erwartet. Aber es ist zwecklos. Sie würden mich nie hinauslassen und ich würde
womöglich eine Massenpanik auslösen.
»Wir sind so tief unter der Erde, bestimmt sind wir hier
sicher«, sagt meine Mutter matt. Denkt sie an meinen Vater, der im Bergwerk in
Stücke gerissen wurde? »Aber das war knapp. Gut, dass Peeta das Nötige getan
und uns gewarnt hat.«
Das Nötige. Eine harmlose Umschreibung für alles, was
nötig war, um Alarm zu schlagen. Das Wissen, die Gelegenheit, der Mut. Und noch
etwas anderes, das ich nicht benennen kann. Peeta schien mit sich ringen zu
müssen, er musste sich überwinden, die Botschaft zu äußern. Warum? Die
Leichtigkeit, mit der er Worte verdrehen kann, ist sein größtes Talent. War die
Anstrengung eine Folge der Folter? Oder mehr als das? Eine Art Wahnsinn?
Coins Stimme, vielleicht etwas härter als sonst, erfüllt
den Bunker, die Lautstärke flackert ebenso wie das Licht. »Offenbar war Peeta
Mellarks Information korrekt und wir sind ihm zu großem Dank verpflichtet. Die
Messinstrumente zeigen an, dass das erste Geschoss eine große Sprengkraft
hatte, jedoch nicht gestrahlt hat. Wir rechnen damit, dass weitere folgen werden.
Für die Dauer des Angriffs haben die Bewohner in ihren zugewiesenen Bereichen
zu bleiben, solange keine anderslautenden Anweisungen erfolgen.«
Ein Soldat teilt meiner Mutter mit, dass sie in der
Erste-Hilfe-Station gebraucht wird. Sie lässt uns ungern allein, obwohl sie nur
dreißig Meter entfernt sein wird.
»Uns passiert schon nichts«, sage ich. »Glaubst du, an dem
käme jemand vorbei?« Ich zeige auf Butterblume, der mich so halbherzig
anfaucht, dass wir alle ein wenig lachen müssen. Selbst ich habe Mitleid mit
ihm. Nachdem meine Mutter weg ist, sage ich zu Prim: »Warum steigst du nicht
mit ihm in die Koje?«
»Ich weiß, dass es albern ist ... aber ich hab Angst, dass
das Ding beim nächsten Einschlag über uns zusammenkracht«, sagt sie.
Wenn die Kojen zusammenkrachen, bricht der ganze Bunker
zusammen und begräbt uns, doch diese Logik ist jetzt wohl wenig hilfreich.
Anstatt etwas zu sagen, räume ich das Vorratsfach frei und bereite Butterblume
darin ein Bett. Davor lege ich für meine Schwester und mich eine Matte.
Wir dürfen in kleinen Grüppchen die Toilette benutzen und
uns die Zähne putzen, Duschen ist für heute allerdings gestrichen. Ich
kuschele mich mit Prim auf die Matte. Die Decken nehmen wir doppelt, denn in der
Höhle ist es feucht und kalt. Butterblume, der unglücklich ist, obwohl Prim
sich die ganze Zeit um ihn kümmert, kauert im Vorratsfach und stößt mir seinen
Katzenatem ins Gesicht.
Trotz der misslichen Umstände bin ich dankbar für die Zeit
mit meiner Schwester. Seit ich hier bin - nein, seit den ersten Spielen -, war
ich so wahnsinnig beschäftigt, dass ich mich kaum um sie kümmern konnte. Ich
habe nicht so auf sie aufgepasst wie nötig, nicht so wie früher. Schließlich
war es Gale, der unsere Wohneinheit durchgesehen hat, nicht ich. Das muss ich
wiedergutmachen.
Ich habe sie noch nicht mal gefragt, wie sie den Schock
verkraftet hat, dass es sie hierher verschlagen hat. »Und, Prim, wie gefällt
es dir in Distrikt 13?«, frage ich.
»Jetzt gerade?«, fragt sie zurück. Wir
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