Colorado Saga
gewesen war. Für die Farmer von Lancaster bedeutete die Zeit wenig; sie gingen ihren Geschäften nach und ließen andere sich sorgen um so lästige Zwischenfälle wie Bürgerkrieg und Finanzkatastrophen.
Die Brüder machten ein paar spöttische Bemerkungen über Levis bartloses Gesicht und beglückwünschten ihn zu seiner Leistung, die weite Bahnreise von Colorado herunter überstanden zu haben. Sie luden ihn auf ein von zwei gutgenährten Braunen gezogenes Fuhrwerk, und ab ging's nach Lampeter. Levi fand, daß es in der Hell Street ruhiger geworden war. Die
Farm aber, bemerkte er, als sie sich dem alten Weg und den hohen, breitkronigen Bäumen näherten, hatte sich nicht verändert. Da erhob sich wie eh und je der große Holzbau mit dem farbenfrohen Firmenzeichen und der weit sichtbaren Aufschrift:
Jacob Zendt 1713 Metzger
Die Bäume waren prächtig gediehen, und die kleinen Häuser standen noch immer so da, wie er sie verlassen hatte. Er mußte daran denken, wie viele Meilen Wurst und welche Berge aus Fleisch wohl aus dieser Großmetzgerei hervorgegangen waren, seit er weg war.
»Wir haben auch einen Verkaufsstand in Philadelphia«, erklärte Caspar. »Wir nehmen den Zug nach Reading Terminal. Sehr gutes Geschäft.« Levi hörte mit Vergnügen wieder einmal den Akzent der Pennsylvania-Deutschen.
Im Haus, das neben dem Holzbau der Metzgerei bescheiden wirkte, traf er die Zendt-Frauen. Rebecca Stoltzfuß hatte sich in der Zwischenzeit völlig verändert. Sie war jetzt plump, weißhaarig und apathisch. Nur das herzförmige Mündchen war das gleiche, doch in dem aus der Form geratenen Gesicht wirkte es ziemlich komisch. Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie nahm sie gleichmütig.
»Die Geschäfte gehen gut«, sagte sie.
»Wer führt jetzt die Bäckerei?« fragte Levi.
»Mein Bruder.«
Die Zendt-Frauen hatten das übliche Familiendinner vorbereitet, ganze Berge von Speisen. Levi mußte an die vielen Jahre denken, in denen er von getrocknetem Fleisch und Bohnen gelebt hatte. Die große Tafel und die Beistelltische bogen sich unter der Last von acht Fleischsorten, verschiedenem Geflügel und sechs Arten köstlichen Kuchens, darunter auch jener, an den Levi mit quälender Sehnsucht gedacht hatte, als er am Verhungern gewesen war: knuspriger Nußkuchen mit Zuckerüberguß.
Er fragte sich, ob Menschen überhaupt das Recht hätten, derart zu schlemmen, so verschwenderisch umzugehen mit dem Besten, was die Welt zu bieten hatte. Als er die Farm abschritt und den Überfluß an Wasser sah, die unendlich vielen Bäume und die saftigen Weiden, auf denen jede Kuh fast einen Morgen für sich allein hatte, war er betroffen von dem Gedanken, wie leicht doch das Leben in Pennsylvania war, und wie hart dagegen in Colorado, wo man einen zwanzig Meilen langen Graben anlegen mußte, um ein wenig Wasser für sein Land zu ergattern.
Doch es waren die Bäume, die ihn am tiefsten bewegten. Er liebte es, durch die Wälder zu wandern oder unter den Bäumen der Picknickwiese zu sitzen. Ja, das ist ein Hickory. Wie viele davon habe ich einst geschlagen, um die Räucherkammer zu heizen. Und die Eichen! Sie sind nicht einen Zoll gewachsen in den vierzig Jahren. Und die lieben Ahornbäume, die Eschen und Ulmen! Wir hatten Schätze hier und wußten es nicht!
Am Freitag fanden ihn die Kinder unter einem Baum sitzend, mit Tränen in den Augen: »Bist du müde, Onkel Levi?«
»Ich mußte an die Zeit denken, als ich dringend Holz brauchte, um meinen Wagen auszubessern«, erzählte er ihnen, »und ich mußte viele Meilen marschieren, um einen Baum zu finden.«
Bei den Familiengebeten war Levi baß erstaunt, wie detailliert Mahlon dem lieben Gott auftrug, was er zu tun habe. Bei jedem Anruf lenkte der große, griesgrämige Mann Gottes Aufmerksamkeit auf die diversen Übeltäter, auf Einbrecher, sündige Mädchen und sonstige Taugenichtse. Levi begann nun zu verstehen, warum so viele Greueltaten in Colorado ungesühnt blieben: Wenn Gott in Lancaster derart beschäftigt wurde und seine Nase in jedes kleine Problem stecken mußte, wie konnte er Zeit finden, auf wirkliche Verbrechen zu achten, etwa auf jene der Pasquinel-Brüder oder des Oberst Skimmerhorn!
Von Zeit zu Zeit stellte die Familie diskrete Fragen über Levis Erlebnisse im Westen. Sie wußten, daß das Mädchen, das er aus dem Waisenhaus entführt hatte, unterdessen gestorben war.
»Von einer Klapperschlange gebissen«, sagte Levi unbewegt.
»Hatte sie Kinder?«
»Sie war in
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