Colorado Saga
offene Flachland peitschen und alles, was ihm im Weg war, verschlingen und begraben würde. Ethan Grebe war am Nachmittag bereits unterwegs, um die Kinder nach Wendell zu bringen, als der Blizzard losbrach. Ethan sah keine Möglichkeit, ihm auszuweichen. Er dachte daran, umzukehren und zu versuchen, nach Line Camp zurückzufahren, aber dafür war die Straße zu unsicher. Nachdem er befriedigt festgestellt hatte, daß das Benzin reichte, um die Kinder vor Kälte zu schützen, selbst wenn er sich genötigt sehen sollte, ein oder zwei Stunden zu stehen, zuckelte er weiter. Doch dann trieb der Sturm eine furchtbare Menge Schnee über die Prärie, und in wenigen Minuten war die dem Wind zugekehrte Seite des Autobusses mit einem Wall umgeben. Die Räder drehten sich nicht mehr.
In der Hoffnung, daß die Farmer in Line Camp oder Wendell Rettungsmannschaften aussenden würden, ließ Ethan den Motor drei Stunden lang laufen. Er ließ die Kinder eng zusammenrücken, sang mit ihnen und erzählte ihnen Geschichten. Als die Benzinuhr immer weiter sank und die Nacht hereinbrach, bestand für Ethan kein Zweifel mehr, daß der Bus bald völlig im Schnee begraben sein und er schon in Kürze keine Möglichkeit mehr haben würde, die Kinder vor Kälte zu schützen.
Er ließ seinen Blick über die neunzehn verängstigten Gesichter schweifen, biß sich auf die Unterlippe und traf eine Entscheidung: »Ich weiß, wo wir sind. Drei Meilen von der Rumson-Farm. Von dort werde ich Hilfe holen. Nun, Harry, was wirst du tun, während ich fort bin?«
»Auf die Tür aufpassen!«
»Ganz recht. Es darf keiner hinaus. Jetzt müßt ihr hier warten.«
Und er stürzte sich ins Herz des Blizzards. Neunzehn
Kinder waren ihm anvertraut, und er mußte alles tun, was in seiner Macht stand, um sie zu retten, ob ihm dies nun vernünftig erschien oder nicht. Der Wind schlug ihm mit solcher Gewalt entgegen, daß er kaum vorwärts kam. Mühsam stapfte er dahin und legte drei entsetzliche Meilen zurück, doch als er das Tor der Rumson-Farm erreichte, war er dem Tod schon so nah, daß er es nicht mehr aufzudrücken vermochte. Mit seinem letzten Atemzug klopfte er an, ein Hund hörte ihn und bellte - die Kinder wurden gerettet. Präsident Roosevelt sandte den Grebes eine Botschaft, in der er ihnen hohes Lob dafür zollte, einen solchen Sohn großgezogen zu haben. Alice hielt das Schreiben des Präsidenten in Ehren, doch sooft sie es las, legte sie sich die Frage vor, warum die Regierung nichts tat, um den Farmern zu helfen, die solche Menschen in die Welt setzten. »Die wachsen nämlich nicht auf Bäumen, wissen Sie«, bemerkte sie zu Mr. Bellamy.
In den Monaten nach Charlotte Lloyds Tod mußten Entscheidungen über die Venneford-Ranch getroffen werden. Die Mehrheitsaktionäre in Bristol litten unter der weltweiten Wirtschaftskrise genauso wie jeder andere und hatten keine überschüssigen Reserven, um sie in einem weit entfernten Unternehmen anzulegen, das nie beträchtliche Dividenden ausgeschüttet hatte. Sie hatten ihre Ranch von fünfeinhalb Millionen auf neunzigtausend Morgen zusammenschrumpfen gesehen und bei jeder Schrumpfung von ihren amerikanischen Verwaltern zu hören bekommen: »Bei strafferer Betriebsführung werden wir auch echte Gewinne erzielen können«, doch war davon nie etwas zu sehen gewesen.
Im Jahre 1887 war es der große Blizzard gewesen, von 1893 bis 1896 die schwere Wirtschaftskrise und 1923/24 die erste Dürreperiode. Im Jahre 1925 hatten sie an Beeley Garrett geschrieben, der die Verwaltung innehatte:
»Es hat den Anschein, als ob die Rinderzucht im Westen immer im kommenden Jahr Erfolge zeitigen würde, sofern die Verhältnisse stabil bleiben. Aber es hat seit dem Beginn der Industrialisierung noch nie stabile Verhältnisse gegeben. Sooft wir noch einen von unseren Leuten aus Bristol nach Venneford geschickt haben, ist er mit begeisterten Berichten darüber zurückgekommen, wie aufregend das Leben auf den Weidegebieten und was für ein prächtiger Stier dieser Emperor IX. ist. Wir haben daraus den Schluß ziehen müssen, daß dieser Riesenbetrieb zur Freude der Cowboys, zum Vergnügen der Stiere, jedoch unter Vernachlässigung der Aktionäre geführt wird.«
Jetzt aber, in diesem Sommer 1935, hatten sie die Nase voll. Sie wollten den verbleibenden Besitz verkaufen und boten ihn zu einem sehr vorteilhaften Preis an. Charlotte Lloyd war die Hauptaktionärin in Amerika gewesen, und so verstand es sich von selbst, daß man vorerst
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