Colours of Love
Zimmer haben wir im Moment frei, da kannst du auf jeden Fall heute Nacht schlafen. Und danach sehen wir weiter. Was meinst du?«
Was ich meine? Ich meine, dass ich der größte Glückspilz in ganz London bin und dass meine Welt plötzlich wieder in Ordnung ist und ich Annie French umarmen könnte.
»Du bist die Beste«, sage ich und als wir uns anlächeln, spüre ich, dass ich eine neue Freundin gefunden habe.
»Dann hätten wir das ja geklärt«, erwidert sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Und jetzt wieder zurück zum Geschäft.« Sie sieht auf die Uhr. »Das Abteilungs-Meeting beginnt in zehn Minuten. Hast du die Berichte durchgelesen?«
Als ich ihr das bestätige, nickt sie zufrieden. Shadrach Alani, ihr Kollege, kommt zurück und nimmt sich einen Stapel Papiere von seinem Schreibtisch. Er lächelt mich an. »Kommt ihr dann?«
Zusammen verlassen wir das Büro, und ich bin wieder mit meinem Schicksal versöhnt.
5
Wir nehmen die Northern Line und sind nach zwanzig Minuten an der U-Bahn-Station mit dem schönen Namen »Angel«, wo wir aussteigen.
»Von hier aus müssen wir noch ein Stück zu Fuß«, erklärt mir Annie, und ich stöhne innerlich, denn der Koffer ist ein echter Hemmschuh. Ich wünschte, wir wären schon da.
Aber während wir gehen, vergesse ich das Gewicht, das ich hinter mir herziehe, und sehe mich fasziniert um. Islington ist ein wirklich hübsches Viertel. Eine geschlossene Front von zweistöckigen Häusern, einige modern, andere alt, aber liebevoll restauriert, zieht sich an der von Bäumen gesäumten Straße entlang, und es gibt alle möglichen kleinen Läden und Boutiquen mit ausgefallenen Auslagen: Vintage-Klamotten, Kunst, Möbel, Feinkost und Backwaren. Mir geht das Herz auf, als mir klar wird, dass dies das London ist, das ich unbedingt erobern will.
Annie sieht meinen begierigen Blick und lacht. »Lust, mit einer Londonerin bei nächster Gelegenheit ausgiebig shoppen zu gehen?«
Ich nicke begeistert. »Unbedingt.« Vielleicht habe ich ja doch eine Chance, hinter das Mode-Geheimnis meiner neuen Mitbewohnerin zu kommen.
Wir gehen noch ein Stück, dann biegt Annie nach links in eine kurze Straße ab, die in einer Sackgasse vor einer Mauer endet. Fast alle Häuser sehen hier identisch aus, sind zweigeschossig und aus braunem Backstein mit hübschen weißen Bogenfenstern. Es gibt nur wenige ganz weiße und ein einziges, das auch braun ist und drei Stockwerke hat. Davor bleibt Annie stehen.
»Hier ist es«, verkündet sie und deutet auf die ebenerdige Eingangstür. Sie stellt sich davor und drückt mehrfach auf die oberste Klingel, während ich vom Gehweg aus neugierig mein neues Heim betrachte. Meine Müdigkeit ist wie weggeblasen. Eigentlich ist es gar kein Unglück, dass es mit der Wohnung in Whitechapel nicht geklappt hat, denke ich. Das hier ist wahrscheinlich viel besser.
»Hast du keinen Schlüssel?«, frage ich Annie irritiert, als ich sehe, dass sie immer noch klingelt.
Sie grinst. »Doch, natürlich. Aber ich habe keine Lust, das Ding da die Treppe rauf zu tragen.« Sie deutet mit dem Kinn auf meinen Monstrum-Koffer.
»In welchem Stock wohnt ihr denn?«, frage ich entsetzt, als mir dämmert, dass ich mein Gepäck sehr wahrscheinlich nicht die Treppe raufziehen kann. Das wird hart.
»Ganz oben – aber wie gesagt, ich denke, der Service ist schon unterwegs.«
Tatsächlich wird in diesem Moment die Tür aufgerissen, und ein junger Mann steht in der Tür. Er hat hellbraune Haare und wirkt sportlich und durchtrainiert. Erschrocken sieht er Annie an.
»Was ist los? Hast du deinen Schlüssel vergessen?« Sein Akzent ist eindeutig amerikanisch, was ihn mir sofort sympathisch macht. Ein Landsmann, hurra.
Annie hält ihren dicken Schlüsselbund hoch und klimpert damit. »Nein, habe ich nicht.«
Der junge Mann hebt die Augenbrauen. »Und du konntest nicht aufschließen, weil …«
»… das gar keinen Zweck gehabt hätte. Wir brauchen dich nämlich. Das ist ein Notfall.« Sie dreht sich zu mir um und deutet mit nach oben gekehrter Handfläche auf mich. »Marcus, darf ich vorstellen, das ist Grace Lawson aus Chicago – Grace, das ist Marcus, der für zwei Gastsemester aus Maine in unser wunderschönes London gekommen ist. Grace ist die neue Praktikantin in unserer Firma und zurzeit leider obdachlos – lange Geschichte, erzählen wir dir nachher –, deshalb schläft sie heute Nacht bei uns, in dem freien Zimmer.«
Marcus scheint mich erst jetzt zu registrieren und
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