Colours of Love
Ich starre Annie an, während die U-Bahn, die hier Tube heißt, über eine Weiche rast und wir durchgeschüttelt werden. Es ist halb acht Uhr morgens, und der Wagon ist voller Menschen, die alle wie wir in die City wollen, um pünktlich bei der Arbeit zu sein, deshalb müssen wir stehen und halten uns an den Stangen über uns fest.
»Hätte ich es sonst vorgeschlagen?« Annie grinst. »Als du schon im Bett warst, haben die Jungs und ich das besprochen, und wir waren alle dafür.« Sie zwinkert mir zu. »Vor allem Marcus. Ich glaube, bei dem hast du einen besonders bleibenden Eindruck hinterlassen.«
»Das ist so nett von euch.« Ich kann mein Glück immer noch nicht fassen: Ich darf in der WG bleiben, für die gesamte Dauer meines Praktikums! Das hat Annie mir eben angeboten, und ich könnte sie knutschen, so begeistert bin ich. Als ich heute Morgen wach wurde, habe ich nämlich mit Grauen an die Suche nach einer Bleibe gedacht, die mir noch bevorgestanden hätte. »Ich zahle euch natürlich ab sofort Miete«, erkläre ich entschlossen.
Annie winkt ab. »Das sehen wir dann. Du musst ja erst mal die dreihundert Pfund verkraften, die dir jetzt fehlen. Apropos: Wir können heute nach der Arbeit zur Polizei gehen und Anzeige erstatten, wenn du willst. Wer weiß, vielleicht kriegen sie den Kerl ja.«
»Ja, lass uns das machen«, erwidere ich, aber insgeheim bin ich gar nicht mehr traurig darüber, dass es mit der Wohnung in Whitechapel nicht geklappt hat. Die Alternative ist so viel besser! Ich muss nicht abends allein in einem einsamen Apartment sitzen, sondern kann die Zeit mit drei wirklich netten Menschen verbringen. Ich habe ein richtiges Zuhause in dieser fremden Stadt, und das ist ein tolles Gefühl. Das hätte auch alles ganz anders laufen können.
Von der Tube-Station »Moorgate« laufen wir zum Huntington-Gebäude am London Wall. Es ist wieder ein herrlicher Tag, der Himmel ist blau und wolkenlos und spiegelt meinen derzeitigen Gemütszustand. Im Lift auf dem Weg nach oben erklärt Annie mir, in welchen Stockwerken welche Abteilungen untergebracht sind.
»Und wo ist die Chefetage?« Die Frage rutscht mir raus, bevor ich darüber nachgedacht habe.
Sie hebt eine Augenbraue. »Fängst du schon wieder an.«
»Ich will es doch nur wissen«, verteidige ich mich, und Annie gibt nach. Sie deutet auf den obersten Knopf auf der Leiste. »Ganz oben. Von dort hat man einen fantastischen Blick über die City.«
Die Türen öffnen sich im vierten Stock, und wir gehen wieder den Abteilungsflur hinunter. Doch wir kommen nicht bis in unsere Büros, denn als wir am Sekretariat vorbeigehen, hält Veronica Hetchfield uns auf.
»Moment, Miss Lawson. Der Boss hat gerade angerufen. Er möchte Sie sprechen.«
Ich erstarre förmlich. Der Boss? Dann fällt mir ein, dass sie damit sicher den Abteilungsleiter meint.
»Danke«, sage ich und will mich wieder in Bewegung setzen, um zu Clive Renshaws Büro zu gehen. Doch sie hält mich zurück.
»Falsche Richtung. Das Büro von Mr Huntington ist oben.«
Ich muss so hart schlucken, dass es fast wehtut. »Mr Huntington?«, wiederhole ich heiser. »Sie meinen, Mr Huntington ist der Boss?«
Sie sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. »Mr Huntington ist der Boss, genau«, wiederholt sie, und mir wird jetzt erst klar, was für eine dämliche Frage das war.
»Ich meine, dann ist er es, der mich sprechen möchte?«
»Das hat er gesagt, als er gerade anrief.« Sie macht eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. »Also los, lassen Sie ihn nicht warten. So etwas hasst er.«
Annie, die immer noch neben mir steht, reißt die Augen auf, und auch Veronica scheint die Tatsache, dass ich schon am zweiten Tag in die Chefetage beordert werde, ungewöhnlich zu finden, denn sie mustert mich aufmerksam. Was mich nur noch nervöser macht.
»Tja, also dann.« Ich gebe Annie meine Handtasche und meinen dünnen Sommermantel, dann drehe ich mich wieder zum Fahrstuhl um, aus dem wir gerade ausgestiegen sind. Das Herz klopft mir bis zum Hals.
»Fahr ganz nach oben, da ist noch mal ein eigener Empfang. Die Sekretärin führt dich dann zu ihm«, ruft Annie mir noch hinterher, und ich nicke ihr mit einem unsicheren Lächeln über die Schulter zu, bevor ich mich in Bewegung setze.
Der Fahrstuhl kommt erschreckend schnell oben an, und als die Türen aufgehen, trete ich staunend in das Machtzentrum von Huntington Ventures. Wow. Der Vorraum ist riesig und die Außenwände sind wie überall im Gebäude aus
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