Coltan
elegant aus dem Bild gedreht hatte. Und auch jetzt ist er dank seines
breitkrempigen Hutes nicht zu erkennen. Der andere wirkt stämmig, hat volles
Haar und hält den gestreckten Mittelfinger in die Höhe.
George gähnte.
„Kaffee?“
Ich nickte dankbar. Er verschwand im Nebenraum
und ich griff mir noch einmal die DVD mit der Lobby. Lily schreitet kräftig
aus. Sie ist wütend. Ich zoomte wieder auf ihr Gesicht und fühlte, wie der
Druck in meinen Augen zunahm.
Wir nahmen uns die Videos vom vergangenen
Donnerstag vor. Um 20:55 Uhr betrat der stämmige Mann erneut den Lift. Das
letzte Ereignis an diesem Abend.
Wir wechselten und studierten das Gewimmel in
der Lobby. Lily war nirgendwo zu finden. Ich rief Mader an.
„Sie war nicht da?“
„Quatsch, sie muss da gewesen sein. Ich hab hier
eine Kreditkartenabrechnung aus einem der Shops um die Ecke: 20:58 Uhr ein
Fläschchen Chanel 05. Ich bin sicher, dass sie auf dem Weg ins Palms war.
Such weiter!“
Vielleicht hatte sie an diesem Tag auch den Weg
durch die Lobby gewählt. Wir suchten weiter, vier Stunden Material, ohne Erfolg.
George räusperte sich: „Anderer Eingang?“
„Nur noch der fürs Personal.“
Mader stand plötzlich hinter mir: „Sie ist da gewesen.
Punkt.“
„Aber wir finden sie nicht!“
„Dann ist es die falsche Aufzeichnung.“
George zeigte mit dem Finger auf das eingeblendete
Datum und die Uhrzeit.
„Irgendwas Ungewöhnliches? Kann man Videos
nicht auch manipulieren?“
George sah mich verwundert an. Ich erzählte ihm
die Geschichte mit den Aufklebern.
„Das kann dauern. Ich melde mich, in zwei, drei
Stunden.“
Was aber, wenn die Aufnahmen nicht manipuliert
waren? Wenn sie an jenem Tag doch nicht in diesem Hotel war? Plötzlich
verschwamm alles vor meinen Augen, ihr Bild, wie sie durch die Lobby eilte,
legte sich wie ein Schleier über die Wirklichkeit. Ich versuchte, tief Luft zu
holen und spürte, wie sich meine Lungen zusammenzogen, die Knie ihren Dienst zu
versagen drohten.
Immer eine Hand an der Wand bewegte ich mich
langsam, Schritt für Schritt, über den Flur zum Fahrstuhl. Die Halle war leer,
nur der Wachdienst sah zu, wie ich auf die Straße taumelte. Lily war so
lebendig, so nah, ich konnte ihren Atem spüren. Ich hätte sie retten können.
Ein Taxi brachte mich zur Markthalle, wo ich im
Schatten einer Kastanie auf einen Stuhl fiel.
Nein, kein Bier, Wasser. Immer wieder
verkrampfte sich mein Körper, suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Die
Stimmbänder fanden ihn schließlich, ein trockenes Schluchzen tief aus dem
Kehlkopf, rang allen Widerstand nieder. Ich konnte mich nicht erinnern, wann
ich das letzte Mal geweint hatte. Jetzt brach es aus mir heraus und ich ließ es
geschehen. Das Telefon summte und summte und summte. Nein, nicht jetzt.
Irgendwann spürte ich Maders Hand auf meiner
Schulter. Warm, beruhigend, dann strich sie mir über den Kopf und ich fühlte
mich plötzlich geborgen und sicher.
Sie reichte mir ein Taschentuch: „Ich hab Dein
Handy orten lassen.“
Ohne zu wissen warum, musste ich plötzlich
lachen.
„Ich hab es nicht mehr ausgehalten, im wahrsten
Sinne des Wortes. Es und ich, wir mussten raus.“
Sie winkte nach der Bedienung, bestellte zwei
Kaffee.
„Willst Du die Neuigkeit des Tages hören?“
„Martens wird pensioniert und mich haben sie
gefeuert?“
„Zwei Sechser mit Zusatzzahl gibt es leider
nicht! Sagen wir, es gibt einen Trostpreis. Irgendwer hat versucht, uns mit den
Videos zu linken.“ Sie fasste mit wenigen Worten zusammen, was George gefunden
hatte.
Die Aufzeichnung der Liftkamera vom vergangenen
Donnerstag war gefälscht. Eine flackernde Neonröhre hatte den Beweis geliefert.
Er hatte sich jeden Bildausschnitt einzeln vorgenommen, überall war das Flackern
zu erkennen, nur unter der Datums- und Zeiteinblendung nicht.
Diese Sequenz war also einkopiert worden. Irgendwer
hatte eine Aufzeichnung von einem andern Tag genommen und mit den Daten vom
letzten Donnerstag versehen.
„Die Sicherheitsleute vom Hotel?“
„Glaub ich nicht. Das war hochprofessionell,
dafür braucht man mehr als einen x-beliebigen Recorder aus dem Elektronikmarkt.
Aber sie hatten es wohl sehr eilig und haben das Flackern übersehen.“
Ihr Handy intonierte eine Mozart-Sonate. Sie
stand auf und lief einige Schritte. Ich verstand nur Wortfetzen, dann kam sie
zurück.
„Die Aufnahme von der Liftkamera von vor drei
Wochen ist auch nicht sauber. Zwei Männer gehen rein, aber keiner kommt
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