Coltan
nach dem Fall
der Mauer war sie nicht bereit auch nur einen Schritt über die ehemalige Grenze
zu setzen. Der Osten blieb der Osten, Feindesland.
Die Haare straff nach hinten gekämmt diente sie
der einzigen Macht in der Stadt, die dem drohenden Einfall der Kommunisten
Einhalt gebieten konnte. Henriette Gallert war Schreibkraft bei den Amerikanern
in der Clayallee.
Brandt hielt sie für einen Feigling. Löwenthals
Frühschoppen war unser sonntäglicher Kirchgang. Wen sie zu wählen hatte, war keine
Frage, über die es sich nachzudenken lohnte. Und da es im Westen Berlins kein deutsches
Militär gab, wuchs ich mit der Bestimmung auf, die Freiheit im Dienste der Polizei
zu verteidigen.
Lily hörte lange schweigend zu, dann unterbrach
sie mich: „Klasse Karriere, ein wenig schräg, aber andere landen am Fließband.“
„Sagt Dir der Begriff geschlossene Einheit etwas?“
Sie sah mich fragend an.
„Kerle, wie ich sie mir immer als Vater
erträumt hatte. Direkt, hart, durchtrainiert, die sich um ihre Familie kümmern,
immer füreinander da sind, egal, was kommt. Eine tolle Truppe. Ich fühlte mich
zu Hause.“
Mein einziger Makel war meine Mutter. Für sie stand
immer außer Frage: Es gibt Dinge, die tut man nicht, Schwächere werden nicht verprügelt,
wer am Boden liegt, dem wird Pardon gewährt. Und auf Frauen und Kinder schießt
man nicht, niemals.
Bei meinem ersten Einsatz dann, nicht zur Sicherung,
sondern klar gegen die Roten, stand ich dann neben einem dieser Kerle, die
alles für ihre Frauen und Kinder gegeben hätten, und musste zusehen, wie er ein
Mädchen, dass gut seine Tochter hätte sein können, krankenhausreif prügelte.
Ich versuchte, ihn wegzuziehen, erfolglos. Er schlug noch auf sie ein, als sie
nicht mal mehr kriechen konnte. Also zeigte ich ihn an.
Ein Funktionär der Gewerkschaft legte mir nahe,
das Maul zu halten, dann könnte ich gut und gern auch in eine andere Abteilung
wechseln. Ein Ausrutscher sei schließlich nicht die Regel. Außerdem gäbe es genug
Kollegen, die jederzeit bezeugen würden, der arme Mann sei an diesem Tag gar
nicht im Einsatz gewesen.
Das war der erste Abend in meinem Leben, an den
ich keine Erinnerung mehr habe. Der Whisky hatte alle Probleme gelöst.
Lily räumte den Tisch ab. Ihr einziger
Kommentar war: „Und jetzt bist Du zu alt, um noch was Neues anzufangen.“
Ich stand unschlüssig vor der Spüle. Darunter
das gut gefüllte Weinlager. Ich hatte mich schon wieder daran gewöhnt, die Probleme
einfach wegzusaufen, weil mir der Mut fehlte, sie auszuhalten.
Nein, Gallert, heute nicht. Das bist du Lily
schuldig. Ich zog mir ein sauberes Hemd an und machte mich auf den Weg zu
Marita, hundert Meter bis zur Ecke.
44
Donnerstag.
Um acht war es noch erträglich. Der Bote mit
den Beschlüssen des Amtsrichters wartete schon. Auf Hanschke war Verlass. Ich
fuhr ins Hotel, Spencer kam sofort hinter dem Tresen hervor und studierte
stehend die drei amtlich gesiegelten Seiten.
„Die Gästelisten auch?“
Er sah nicht glücklich aus. Wir verschwanden im
Servicetrakt, einem undurchschaubaren Labyrinth. Nach mehreren Ecken öffnete er
die Tür zu einem fensterlosen Raum, die Domäne des hoteleigenen Sicherheitsdienstes.
Alle Gänge, Lobby und Tiefgarage, auch der Vorplatz wurden per Kamera
observiert. Lloyd Spencer zeigte auf einen Bildschirm.
„Das ist der Lift fürs Penthouse.“
Das Sicherheitskonzept war klar zu erkennen:
Abschreckung für Außenstehende und Diskretion für Eingeweihte. Wer nicht
erkannt werden wollte, lief ein wenig schräg an der Kamera vorbei. Kein
Zweifel, auch Hanschke hatte dieses Überwachungskonzept schon kennen und
wahrscheinlich hassen gelernt.
Die Aufzeichnungen waren in einem Nebenraum
deponiert, sortiert nach Datum und Kameraposition.
Spencer gab dem Wachmann den Beschluss, der nach
einem Blick darauf zielstrebig ins Regal griff. Die Aufzeichnungen für Donnerstag
vor drei Wochen und vergangene Woche. Auf einem knappen Dutzend DVDs waren alle
Bewegungen im Hotel ab 18 Uhr gespeichert. Spencer reichte mir eine große
Tasche mit dem Werbeaufdruck einer edlen französischen Lederwarenfirma, die ich
jahrelang für einen besonders schnellen Kurierdienst gehalten hatte.
Der Wachmann zog jede DVD aus dem Schuber und
kontrollierte die Daten. Plötzlich hielt er kurz inne.
„Was ist?“ Ich sah, dass er überlegte.
„Die Aufkleber. Wir überspielen die Aufnahmen
immer wieder. Dann wird der alte Aufkleber überklebt, mit leichtem
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