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Commissaire-Llob 1 - Morituri

Commissaire-Llob 1 - Morituri

Titel: Commissaire-Llob 1 - Morituri
Autoren: Yasmina Khadra
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aus.

    * * *

    Am späten Nachmittag wird Serdj überführt. Im
    Leichenschauhaus rät der Direktor mir dringend,
    den Chirurgen nicht bei der Arbeit zu stören.
    „Ich ziehe es vor, daß du von ihm das Bild des
    guten Mitarbeiters in Erinnerung behältst, Llob. Er
    ist so entstellt. Sie nähen ihm gerade den Kopf
    wieder an.“

    * * *

    Am nächsten Tag versammelt sich die gesamte
    Mannschaft in Bab-el-Oued zum Begräbnis. Auf
    der Straße wimmelt es von Nachbarn, Jugendlichen
    aus dem Viertel, Greisen und Schaulustigen. Leut-
    nant Chater hat zwei Sicherheitssperren errichtet
    und auf den Dächern der Umgebung Scharfschüt-
    zen postiert. Die Terroristen haben uns an die un-
    vorstellbarsten Scheußlichkeiten gewöhnt.
    Manchmal bringen sie eine Mutter um, nur um am
    Tag der Aufbahrung den Sohn in die Falle zu be-
    kommen, oder sie ermorden einen Polizisten, nur
    um seine Kollegen niederzumähen, die sich an sei-
    nem Grab versammeln.
    Der Direktor, die Lokalpolitiker und Offiziere
    der 13. Brigade haben es sich nicht nehmen lassen,
    der Familie des Verstorbenen persönlich ihr Bei-
    leid auszusprechen.
    Ich komme als letzter an, weil Lino verschwun-
    den ist.
    Auf der Straße spielt ein Junge mit einem Fahr-
    radreifen, völlig unbeeindruckt von der ganzen
    Menschenmenge. Er ist fünf oder sechs Jahre alt.
    Serdjs Jüngster, erklärt mir ein Onkel. Er begreift
    nicht, daß alle diese Leute wegen ihm da sind.
    Man führt mich in eine Hütte. Ich kann jetzt ver-
    stehen, warum Serdj mich nie nach Hause eingela-
    den hat. Er wollte mich nicht in Verlegenheit brin-
    gen. Seine Bude ist dermaßen elend, daß ihre Be-
    wohner noch durchscheinender als Geister wirken.
    Man vertraut den Freund einem heruntergekom-
    menen Friedhof an. Gestern den Vater begraben,
    heute den Sohn. So ist das Gesetz des Lebens.
    Irgend jemand flüstert mir zu: „Gott ist groß.“
    „Die Hölle auch“, gebe ich zurück.
    Der Imam hat mit der Lesung der Fatiha* begon-
    nen. [* (arab.) „die (Er)öffnende“. Name der ersten Koran-sure, die bei den täglichen Gebeten und bei besonderen An-lässen rezitiert wird, also im religiösen Leben der Muslime eine dem Vaterunser ähnliche Rolle spielt.] Ich richte die Augen gen Himmel. Als sie beginnen, Erde auf den
    Körper meines Kollegen zu werfen, bleibt eine
    Wolke vor der Sonne stehen. Ein Stück Nacht, das
    sich auf die Laufbahn eines Polizisten senkt.

    * * *

    Den ganzen Tag lang habe ich Lino gesucht, bei
    Da Achour, in den Kneipen, in der Nähe der Bor-
    delle … Dann habe ich mich an das Hinterzimmer
    bei Sid-Ali erinnert, unserem früheren Ausbilder,
    der jetzt in Pension ist. Die Jungs aus demselben
    Jahrgang treffen sich am Wochenende bei ihm, um
    ein paar Liter zu kippen und die letzten Neuigkei-
    ten auszutauschen.
    Sid-Ali deutet mit dem Daumen über die Schul-
    ter.
    „Er hat die Sache sehr schlecht aufgenommen“,
    vertraut er mir an.
    „Da ist er nicht der einzige.“
    Lino sitzt zusammengesunken am Tisch, das Ge-
    sicht in der Armbeuge vergraben. Die Anzahl der
    geleerten Bierdosen gibt eine Vorstellung vom
    Ausmaß seiner Verletzung.
    Ich hüstle in meine Faust. Lino reagiert kaum. Er
    zerwühlt weiter seinen Haarschopf, lächelt mich
    wie durch einen Spiegel an. Es ist nicht wirklich
    ein Lächeln, eher die Grimasse von einem, der ne-
    ben seinen Schuhen steht.
    Er schüttelt seine Uhr, hält sie ans Ohr.
    „Hassu schon deine Ticktack gefüttert?“ stam-
    melt er.
    „Ich habe eine Quarzuhr.“
    „Meine is stehngeblieben.“
    „Das Leben geht weiter.“
    Lino ist stockbesoffen. Er fällt fast aus seinem
    schlampigen Gewand. Seine Bewegungen sind
    unkoordiniert, die Zunge bleibt zwischen seinen
    Kiefern hängen wie eine verrostete Klinke.
    „Das nennssu ’n Leben, Kommy? Im bessen Fall
    ’n Gnadenfriss. Wieso kommssu und verpanschss
    mir ’n Wein?“
    „Weil es nichts bringt, sich zu besaufen.“
    Er stößt mit einem Ruck den Tisch um, taumelt.
    Ich versuche, ihn zu stützen. Er schiebt empört
    meine Hand weg.
    „Bin immer no fähig, aufrech ssu stehn, ho! Ich
    steh immer no so fess auf mein Füßn, daß ihr mi
    stehend begraben müss!“
    „Mach dich nicht zum Idioten. Wir gehen jetzt
    nach Haus.“
    „Hab kein Ssuhause mehr.“
    „Das hier ist nicht der richtige Ort für dich, Li-
    no.“
    „Jammerlappen!“
    Er stößt mich weg, torkelt auf die Straße, hält die
    Hände trichterförmig vor den Mund und brüllt:
    „Ich bin ein Bulle, he! Ich habe keine
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