Commissaire-Llob 1 - Morituri
gedankenverloren, schlafwandlerisch. Etwas in ihrem Gang zeugt von tiefster Resignation. Sie haben die Haltung derer, die der Messias persönlich beleidigt hat. Ihr Schweigen ist das Schweigen derer, die einander nicht mehr verstehen.
Lino hält mir die Tür auf. Er sagt nicht guten Morgen. Er weiß, daß ich weiß.
Wortlos bahnen wir uns einen Weg durch den Nebel.
Im Büro erfahre ich von Serdj, daß einer der beiden Mörder von Ai’t Meziane bereits verhaftet ist. Sofort stelle ich mir vor, wie ich ihn bei lebendigem Leib in Stücke zerreiße.
Als ich in seiner Zelle ankomme, weicht meine Wut. Aschfahl und fröstelnd kauert er in der Ecke. Ein Jugendlicher, kaum größer als ein Gewehr. Offensichtlich von den Ereignissen überfordert. Sein Blick, der eines gefangenen Vogels, schießt nach allen Seiten, ohne den meinen zu streifen. Zitternd preßt er die Hände zwischen die Schenkel.
Mir ist gleich klar, daß wir mit ihm als Führer so bald nicht über den Berg sein werden.
Zunächst streitet er durch die Bank alles ab. Nach einer halben Stunde wird er schwach: Er arbeitet als Mechanikerlehrling, Place de la Gare. Anfangs hat man ihn mit einem Einbruch hier, einem Botendienst dort betraut. Dann trug man ihm auf, Alarm zu schlagen, sobald ein Taghout des Viertels zu ihm kam. Dann mußte er seine Jacke an den Türflügel hängen.
»Das Schießen übernimmt Didi. Ich nenne ihm das Ziel und stehe Schmiere. Nach dem Anschlag verstecke ich die Waffe in der Werkstatt. Am Abend kommt jemand vorbei und holt sie ab.«
Er wurde vor fünf Monaten am Tag nach einer Razzia in der Innenstadt rekrutiert. Er kam aus dem Bad. Polizisten stießen ihn in den Einsatzwagen. Drei Stunden blieb er auf dem Kommissariat. Mißhandelt wurde er nicht, aber man nahm seine Herkunft und seine Anschrift auf. Didi nennt das die schwarze Liste. »Du bist geliefert!« hat er ihn angeschrien. »Eines Tages, wenn sie alles andere abgegrast haben, kommen sie und holen dich.«
»Ich habe nicht gewußt, daß er mich reingelegt hat!« heult er. »Didi hat versprochen, auf mich aufzupassen. Er gab mir immer wieder Geld und nahm mich ins Stadion mit. Er sagte mir, wir wären Brüder und daß Gott unsere Taten segnen würde. Er gab mir Taschen, die ich bei mir aufbewahren sollte. Dann war da plötzlich ein Revolver. Und dann gleich der Nachbar, einer vom Fernsehen.«
»An wie vielen Attentaten warst du beteiligt?«
»Nur an drei, ich schwöre es. Nicht eines mehr. Didi hat sie erschossen. Ich weiß nicht einmal, wie man eine Kugel in die Trommel steckt.«
»Wer war das zweite Opfer?«
»Jamal Armad. Didi hat sehr schlecht über ihn geredet. Er sagte, daß dieser Kerl der Satan sei, daß er Obszönitäten schreiben und die Jugend verderben würde.«
»Wo ist Didi?«
»Ich weiß nicht. Er hat mir nie gezeigt, wo er wohnt. Wenn er Arbeit für mich hat, kommt er zur Werkstatt. Ich treffe ihn dann in einem Cafe zweihundert Meter weiter. Er sagt mir, um was es geht, und nennt mir Zeit und Ort. Dann geht jeder in seine Richtung davon.«
Am Nachmittag legt mir Serdj ein Phantombild vor.
Erinnern Sie sich noch an den Wachhund mit den gedopten Muskeln am Eingang des Limbes Rouges: Nun, genau das ist Didi.
Das Neonschild vom Limbes Rouges zerschneidet die Straße in blutrote Streifen. Hin und wieder wird die Eingangstür von einem Schwall Musik beiseite geschoben, den der Wind alsbald wieder verschluckt. Der Nieselregen legt sich klagend auf die heiteren Nächte von einst, während die Bäume sich in clownesker Hysterie die Haare raufen.
Verschwunden sind die Cliquen, deren Lachen bis zu den Sternen schallte, die schlaflosen Straßen und die Betrunkenen, die ihre eigenen Halluzinationen beschimpften.
Die Rue des Lauriers-Roses gleicht einem von Gott und den Menschen verlassenen See, in dem der Nachtclub wie eine verwunschene Insel herumspukt.
Noch vor wenigen Monaten haben Kioske die Esplanade bis hin zum Marktplatz gesäumt. Nachtschwärmer sind friedlich umherflaniert und haben die Lichter im Hafen gezählt. Die einen haben einander Schwänke aus ihrem Leben erzählt, die anderen überschwenglich vom Schlaraffenland geträumt. Es war nicht wirklich das Paradies, aber weniger traurig als die Hölle, die danach kam.
Heute abend tritt sie auf der Stelle, die Rue des Lauriers-Roses. Ihre Gebäude stehen da wie bestellt und nicht abgeholt. Weit und breit kein Schaschlik-Verkäufer in Sicht und kein Gigolo auf der Jagd nach einem vergoldeten
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