Commissaire-Llob 1 - Morituri
Wolke vor der Sonne stehen. Ein Stück Nacht, das sich auf die Laufbahn eines Polizisten senkt.
Den ganzen Tag lang habe ich Lino gesucht, bei Da Achour, in den Kneipen, in der Nähe der Bordelle … Dann habe ich mich an das Hinterzimmer bei Sid-Ali erinnert, unserem früheren Ausbilder, der jetzt in Pension ist. Die Jungs aus demselben Jahrgang treffen sich am Wochenende bei ihm, um ein paar Liter zu kippen und die letzten Neuigkeiten auszutauschen.
Sid-Ali deutet mit dem Daumen über die Schulter.
»Er hat die Sache sehr schlecht aufgenommen«, vertraut er mir an. »Da ist er nicht der einzige.«
Lino sitzt zusammengesunken am Tisch, das Gesicht in der Armbeuge vergraben. Die Anzahl der geleerten Bierdosen gibt eine Vorstellung vom Ausmaß seiner Verletzung.
Ich hüstle in meine Faust. Lino reagiert kaum. Er zerwühlt weiter seinen Haarschopf, lächelt mich wie durch einen Spiegel an. Es ist nicht wirklich ein Lächeln, eher die Grimasse von einem, der neben seinen Schuhen steht.
Er schüttelt seine Uhr, hält sie ans Ohr.
»Hassu schon deine Ticktack gefüttert?« stammelt er.
»Ich habe eine Quarzuhr.«
»Meine is stehngeblieben.«
»Das Leben geht weiter.«
Lino ist stockbesoffen. Er fällt fast aus seinem schlampigen Gewand. Seine Bewegungen sind unkoordiniert, die Zunge bleibt zwischen seinen Kiefern hängen wie eine verrostete Klinke.
»Das nennssu ‘n Leben, Kommy? Im bessen Fall ’n Gnadenfriss. Wieso kommssu und verpanschss mir ‘n Wein?«
»Weil es nichts bringt, sich zu besaufen.«
Er stößt mit einem Ruck den Tisch um, taumelt. Ich versuche, ihn zu stützen. Er schiebt empört meine Hand weg.
»Bin immer no fähig, aufrech ssu stehn, ho! Ich steh immer no so fess auf mein Füßn, daß ihr mi stehend begraben müss!«
»Mach dich nicht zum Idioten. Wir gehen jetzt nach Haus.«
»Hab kein Ssuhause mehr.«
»Das hier ist nicht der richtige Ort für dich, Lino.«
»Jammerlappen!«
Er stößt mich weg, torkelt auf die Straße, hält die Hände trichterförmig vor den Mund und brüllt: »Ich bin ein Bulle, he! Ich habe keine Angst. Ich bin ein Bulle, kommt alle her und knallt mich ab!«
Ich versuche, ihn zu beruhigen.
Er stößt mich zurück.
»Pfoten weg, du! Rühr mich nicht an, ja! Merkssu eigentlich auch mal, dassu überflüssig biss? Heute abend erdrückssu mich. Laß mich in Frieden, in Ordnung? Und hör auf, mich so anzuschaun, als muß ich mir was vorwerfen. Du muß dir was vorwerfen. Du glaubs, du bis auf der richtigen Seite. Es gib kein richtige Seite. Man is einfach nur am richtigen oder am falschen Platz. Ich bin kein Held. Ich bin nicht mal besonders tapfer. Ich glaube auch nicht an die Friedhofskultur. Ich will einfach nur meine Haut retten.«
»Erzähl mir das später.«
Er weicht schwankend zurück.
»Du bist wachsbleich«, sagt er und schneuzt sich in den Ärmel. »Du has kein Tropfen Blut. Geht dir das Viertel so auf den Geist? Und ich dachte immer, du hättes Mumm in den Knochen. Bin total enttäuscht von dir.«
Ein feiner Sprühregen geht über die Stadt nieder, aber ich bekomme nur die Spritzer aus dem Mund meines Leutnants ab.
Ein junger Bärtiger im Qamis kommt aus einer Parfümerie. [* (arab.) Hemd. Das bis zu den Füßen verlängerte Oberhemd, wie es vor allem die Männer in den arabischen Emiraten tragen, gehört in Algerien neben dem Vollbart zu den typischen Attributen der Islamisten.] Lino wartet, bis er auf seiner Höhe ist, um ihn niederzuboxen.
»Verfluchter dreckiger Terrorist! Aasmade! Scheißmullah!«
Ich umklammere den Leutnant. Er macht sich los, fällt über den verblüfften Bruder her. Es folgen ein Austausch von Schimpfwörtern, Fußtritte ins Leere, Ausspucken. Der Bruder schiebt seine Chechia und die Ärmel seines Qamis zurück. Ich greife ihn mir mit einer Hand und dränge ihn gegen die Mauer.
»Hau bloß ab!«
»Ist der verrückt oder was?«
»Hau ab, ehe ich dir das Schamhaar da im Gesicht zusammenzwirble!«
Ich stoße den Leutnant in meinen Wagen und gebe Gas.
Während der Fahrt kauert sich Lino auf der Rückbank zusammen, das Kinn zwischen den Knien, die Hände über dem Kopf, und weint wie zehn kleine Kinder.
15
Nie hätte ich Lino soviel Kummer zugetraut.
Drei Tage und drei Nächte lang sagt er kein einziges freundliches Wort. Er meidet die Kantine, boykottiert die Einsatzbesprechung und verbringt mehr Zeit damit, hinter der Schreibmaschine über seinem Schmerz zu brüten, als sich für den Rest der Welt zu
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