Commissaire-Llob 2 - Doppelweiß
Blick ist schon nicht mehr von dieser Welt. Er dreht sich taumelnd um, die Augäpfel völlig verdreht, wankt durch die Stelen seines Wohlstands, die Arme weit ausgestreckt, stößt eine ausgestopfte Gazelle um, findet den Weg in seinem eigenen Haus nicht mehr. Er betritt sein Schlafzimmer, als wär’s der Vorhof zur Hölle …
Als der Schuß losging, war ich längst unterwegs zum Strand.
Die Aufgabe des Schriftstellers ist es, das Gewissen der Menschen wachzurütteln …
Nachwort von Beate Burtscher-Bechter und Interview mit Yasmina Khadra
Als Algerien 1962 nach mehr als sieben Jahren Befreiungskrieg gegen die Kolonialmacht Frankreich seine Unabhängigkeit erlangte, waren die Erwartungen der algerischen Bevölkerung groß. In den folgenden Jahrzehnten erfüllten sich die Hoffnungen jedoch nicht, und die Versprechungen der führenden Köpfe des FNL (Front de liberation nationale - Nationale Befreiungsfront), der algerischen Einheitspartei, wurden nie eingelöst. Rund dreißig Jahre Alleinherrschaft des FNL und eine pseudosozialistische Politik ließen Ende der achtziger Jahre ein Land zurück, das politisch, wirtschaftlich und sozial einem Scherbenhaufen glich. Im Oktober 1988 entlud sich der aufgestaute Zorn der Bevölkerung in einem spontanen Aufstand. Die Algerier protestierten gegen Korruption und Mißwirtschaft der Regierung, verlangten politische und wirtschaftliche Reformen und forderten Freiheit und Demokratie. Damit wurde ein Prozeß eingeleitet, der eine Liberalisierung des Parteiensystems nach sich zog und zu einer Legalisierung des bis dahin verbotenen FIS (Front islamique du salut - Islamische Heilsfront) führte. Der überlegene Wahlsieg dieser neuen Oppositionspartei bei den Kommunalwahlen des Jahres 1990 und der hohe Stimmenanteil im ersten Wahlgang bei den Parlamentswahlen 1991 brachten die Unzufriedenheit weiter Bevölkerungskreise mit dem immer noch regierenden FLN und seinem korrupten Beamtenapparat erneut zum Ausdruck. In der Folge wurde Staatschef Chadli Bendjedid im Jänner 1992 von der Armee zum Abdanken gezwungen. Der zweite Durchgang der Parlamentswahlen wurde annulliert, der Ausnahmezustand über das Land verhängt und kurz darauf der FIS als Partei verboten.
In den Sommermonaten des Jahres 1992 erschütterte eine Welle von Terroranschlägen das Land, die in blutige Auseinandersetzungen zwischen militanten Anhängern des FIS und der Armee und schließlich in einen Bürgerkrieg mündete. Unter General Liamine Zeraoual, der seit 1994 an der Spitze des Staates stand, erreichten der blindwütende Terror und die Kämpfe zwischen den Islamisten und den regierenden Militärs 1998 und 1999 einen traurigen Höhepunkt. Mit seinem Aufruf zur nationalen Aussöhnung und der Begnadigung Tausender Islamisten ließ der im April 1999 neu gewählte Präsident Abdelaziz Bouteflika Hoffnung auf ein baldiges Ende des Bürgerkriegs aufkommen. Ob sie sich erfüllen wird, ist freilich noch nicht absehbar.
Es sind die Hintergründe der blutigen Tragödie Algeriens, die Yasmina Khadra im vorliegenden Roman bzw. den drei Bänden der Kommissar-Llob-Trilogie - Morituri, Doppelweiß und L’Automne des chimeres (deutsch im Herbst 2001 ebenfalls bei Haymon) - ins Blickfeld rückt (übrigens auch in den beiden noch unübersetzten Folgeromanen Les Agneaux du Seigneur und A quoi revent les loups, letzterer erscheint im Herbst 2001 im Aufbau-Verlag). Dabei wird klar, daß die Ereignisse äußerst komplex sind und daß die anhaltende Krise in Algerien nicht durch einseitige Schuldzuweisungen an die Islamisten zu erklären ist, sondern nur aus dem Zusammenspiel von historischen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren. Daß sehr oft die Schuldigen gerade auf der anderer Seite der »Front« zu suchen sind, bei Kriegsgewinnlern und neureichen Nutznießern der wirren Verhältnisse und der undurchsichtigen Machtspiele. Welchen Gefahren sich Yasmina Khadra mit einer solch drastisch-unverhüllten Darstellung der Situation aussetzt, ist leicht zu erahnen, wenn man das Schicksal anderer algerischer Intellektueller bedenkt, die der Wahrheit zuliebe ihr Leben ließen. So erstaunt auch die Aufregung nicht, die Yasmina Khadra im September 1999 mit einem Interview in der französischen Tageszeitung Le Monde auslöste, in dem sie eröffnete, daß sich hinter dem weiblichen Pseudonym ein Mann verberge, der vor Ausbruch des algerischen Bürgerkrieges bereits unter seinem richtigen Namen zahlreiche Werke publiziert habe.
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