Commissaire-Llob 2 - Doppelweiß
selbst-
mörderisch vor. Zum Glück ist mir Ihr Buch in die
Hände gefallen. Als ich es durch hatte, begriff ich, daß ich nicht allein dastehe, und ich beschloß, jetzt allen Ernstes etwas zu unternehmen. Was bei uns
alles faul ist, läßt sich kaum benennen. Jetzt oder nie ist der Moment zu handeln, um die Hintergrün-de und Hintermänner dieser albernen Tragödie
schonungslos aufzudecken.“
Eine Tür geht auf, und er unterbricht sich. Ich
drehe mich um und erblicke einen jungen Mann
von seltener Schönheit, mit einem Gesicht wie ein
Mädchen und einem Paar großer himmelblauer
Augen. „Oh Pardon!“ entschuldigt er sich.
Ben hat der Zwischenfall aus dem Konzept ge-
bracht. Seine Hängebacken sind feuerrot. Der Jun-
ge kehrt schleunigst ins Zimmer zurück und
schließt sorgsam die Tür hinter sich.
Ich tue so, als hätte ich nichts Anstößiges be-
merkt, und schlage, um entspannt zu wirken, locker
ein Bein über das andere.
Ben steht auf, geht auf den Balkon. Der Wind
zerzaust ihm die Handvoll grauer Haare, die er
noch an den Schläfen hat. Er lehnt sich gefährlich
weit übers Geländer und läßt seinen Blick über die
Bucht schweifen, die von bleichen Hochhäusern
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umzingelt wird.
„Kommen Sie mal hierher, Monsieur Llob.“
Ich folge ihm wohl oder übel.
Pathetisch weist er auf Algier: „Sehen Sie sich
diese Stadt an. Sie bricht noch zusammen unter der
Last der Belanglosigkeit. Abweisend, plebejisch,
anonym. Wie ein morsches Modell. Und doch
gleicht kein Himmel dem Himmel über Algier. Die
Sonne über Algier ist purer Orgasmus. Die Nacht
über Algier wahre Idylle. Dieses Land lechzt nach
Trunkenheit. Seine Bestimmung ist es, rauschende
Feste zu feiern.“
Ich betrachte mit ihm den Hafen, den der Nebel
einrahmt, Notre-Dame d’Afrique, die hoch auf
ihrem Hügel ihren Ärger hinunterschluckt, die
Kasbah, die wie ein zerrissenes Leichentuch wirkt,
und habe nicht den leisesten Schimmer, worauf er
eigentlich hinaus will.
„Und sehen Sie nur das Resultat von dreißig un-
glückseligen Jahren Irrsinn. Straßen voller Gefah-
ren, Müllberge, soweit das Auge blickt, und eine
Mentalität, bei der selbst der stärkste Scanner
durchbrennt. Und das soll nicht tödlich sein!“
Er blickt noch melancholischer drein und wendet
sich zu mir um, um mich zum Zeugen zu nehmen.
Seine Stimme zittert: „Es gab einmal eine Zeit, da
die Geschichte sich in dicken Lettern auf unseren
Stelen verewigte. Die Zentauren von einst erquick-
ten sich auf den Feldern unserer Mütter. Sogar die
Propheten verneigten sich vor unserer Langlebig-
keit. Gestern erst war es, daß die Mythologie ihre
Fäden ins Haar unserer Witwen wob und der Hori-
zont seine Faszination aus dem Blick unserer Wai-
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sen bezog … Und sehen Sie nur, was heute aus uns
geworden ist: lauter Nullen. Die wandelnde Nie-
dertracht. Alle miteinander.“
Sein Ton steigt drei Oktaven an, als er mit der
Faust gegen das Geländer trommelt und nachsetzt:
„Und siehe, auf die Rasse der Giganten folgt eine
höchst merkwürdige Kolonie von Einsiedlerkreb-
sen, aus deren Gehäuse Galle und Fäulnis quillt.“
Er packt mich bei den Schultern. So, wie man
einander seinerzeit im Maquis* [* Widerstandsbewegung im algerischen Freiheitskampf gegen die französische Kolonialmacht] angefaßt hat.
„Ich möchte das alles zu Papier bringen, Monsi-
eur Llob. Deshalb habe ich Sie kommen lassen.“
Ich befreie mich mehr schlecht als recht aus sei-
ner Umklammerung und kehre in den Salon zu-
rück.
„Sie müssen sich nicht sofort entscheiden, Mon-
sieur Llob.“
„Ich gestehe, Sie bringen mich ein wenig in Ver-
legenheit. Warum ausgerechnet ich?“
„Warum nicht Sie?“
Das reicht mir nicht. Dreißig Jahre auf Tuchfüh-
lung mit dem Mißgeschick haben mich davon ü-
berzeugt, daß nichts, aber auch gar nichts bei uns
reiner Zufall ist.
Mir kommt das Wortgefecht, das ich kürzlich mit
meinem Direktor hatte, wieder in den Sinn. Ver-
sucht da jemand auszutesten, ob ich zu Rückfällen
neige? Seit der Terrorismus sich zu einem Gesell-
schaftsphänomen ausgeweitet hat, ist niemand
mehr so verrückt, sich jemand anderem anzuver-
trauen. Alles steht in Flammen. In der allgemeinen
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Panik weiß man von keinem mehr, auf welcher
Seite er steht.
„Ich bin im Besitz eines einzigartigen Doku-
ments“, versucht er mich zu ködern. „Codename:
N.O.S. Ein Programm, auf das selbst der Teufel
nicht verfallen
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