Commissaire-Llob 2 - Doppelweiß
ging die Welt für ihn
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unter: er entdeckte die Korruption. Für jemand wie
ihn, der vom Schlaraffenland träumte, was das ein
gefundenes Fressen … Ich glaube, seine Neigung
zum Laster entsprang seiner großen Enttäuschung.
Er quälte sich. Er mußte sich seiner Berufung un-
würdig fühlen … Nach den Ereignissen vom Okto-
ber 1988 hatte er geglaubt, die nahende Demokra-
tie biete ihm eine zweite Chance. Er nahm an je-
dem Meeting teil, saß in allen Diskussionsforen.
Die Polemik entfachte seine Kreativität. Er begann
wie ein Besessener zu schreiben. Traum und Uto-
pie war erst der Auftakt. Doch der Erfolg wurde ihm zum Verhängnis. Er fühlte sich, als ob ihm
Flügel wüchsen. Er hatte sich geschworen weiter-
zumachen, immer weiter und weiter zu gehen …
Bis er eines Abends dann bei mir aufkreuzte, zu
einer unmöglichen Zeit, völlig aufgedreht, nicht
wiederzuerkennen. ‚Ich hab’s!’ Und er schwenkte
eine Computer-Diskette. Das war sein Stein der
Weisen, das Dokument des Jahrhunderts, die ver-
fluchte Kopie der Vierten Hypothese …“
„Der Vierten Hypothese?“
„Ich wette, Sie haben die Initialen auf Ihrer Kar-
teikarte neulich abends noch immer nicht entziffert
… HIV … IV, das ist eine römische Vier. Es heißt
also H 4 beziehungsweise 4. Hypothese. Ben hat
mir erklärt, daß es sich um ein teuflisches Pro-
gramm handelt, ausgeheckt von einer Gruppe geld-
schwerer Opportunisten, um das industrielle Erbe
des Landes in ihre Hand zu bringen.“
„Und wie soll das gehen?“
„Mehr hat er mir nicht gesagt. Ich bin nicht gera-
de an die Decke gesprungen. Ich habe einen Horror
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vor Komplikationen. Ben balancierte auf des Mes-
sers Schneide. Er war ohnehin nicht sonderlich
beliebt. Die Politiker hatten ihn ins Abseits ver-
bannt. Die Geschäftsleute versuchten ihn zu ruinie-
ren. Und die Intellektuellen hatten nur Verachtung
für ihn. Ben stand allein da. Man verübelte es mir, daß ich ihn empfing.“
„Wer?“
„Alle. Meine Stammgäste machten aus Protest
einen Bogen um meine Hotels. Meine Finanziers
machten ihre Schleusen dicht. Ben verstand sich
auf die Kunst, alle Welt gegen sich aufzubringen.
Ich hatte ihn angefleht, nach Europa zu gehen. Er
weigerte sich, auf mich zu hören.“
Ich falte meine Hände, richte den Oberkörper
leicht auf und frage: „Haben Sie irgendwem von
dem Dokument erzählt?“
„Das wäre unklug von mir gewesen.“
„Wer, meinen Sie, hätte ihn verraten können?“
„Vielleicht er selbst, ohne daß er es gemerkt hat.
Diese Schriftsteller sind wirklich zu naiv.“
Ich lege einen Finger auf meinen Schnurrbart und
denke eine Sekunde lang nach.
Kaak versinkt erneut in die Betrachtung seiner
Fingernägel, mit derselben Tristesse wie zuvor.
„Hat er, während er Ihnen die Vierte Hypothese
erklärte, nicht den einen oder anderen Namen ge-
nannt oder Andeutungen fallenlassen, die auf be-
stimmte Personen hinweisen?“
Kaak blickt auf und lehnt sich schlapp zurück. Er
verzieht den Mund und schüttelt erst einmal nur
den Kopf.
„Ich habe kein Recht, irgendwelche Namen zu
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nennen, Kommissar. Ben hat mir bloß eine Disket-
te gezeigt, eine ordinäre Zweieinhalb-Zoll-
Diskette. Vielleicht war sie ja leer. Ich kann mir
nicht erlauben, Leute nur deshalb zu kompromittie-
ren, weil Ben sie nicht riechen konnte. Falls dieses Dokument tatsächlich existiert … Sie sind doch
Polizist. Stöbern Sie es auf und machen Sie damit,
was Sie wollen.“
„Dahmane Faïd war nicht zufällig …“
„Vergessen Sie’s, Kommissar. Ich bin vielleicht
ein mieser Kerl, aber ich weiß, wie weit ich gehen
darf. Wenn ich nichts Genaues weiß, dann gehe ich
keinerlei Risiko ein.“
„Okay“, mache ich und hebe die Hände hoch,
„schon vergessen … Ben Ouda hat mir gegenüber
noch einen Code-Namen erwähnt: N.O.S.“
Er unterbricht mich sofort, um mir klarzumachen,
daß er zum einen verstanden hat und sich zum an-
deren kooperativ zeigen möchte.
„Es handelt sich um den Nouvel Ordre Social,
die neue Gesellschaftsordnung, wie die Vierte
Hypothese sie vorsieht. Ein Bündel drakonischer
Maßnahmen, von den vermögendsten Männern
festgelegt, um den neuen Wirtschaftskurs durchzu-
setzen. Da der Übergang vom Fassadensozialismus
zur freien Marktwirtschaft nicht ohne Verluste ab-
geht, haben die Betroffenen das Verlustmanage-
ment selbst in die Hand genommen. Ben zufolge
war alles bis ins letzte
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