Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
ihr zehren wollen, werden nie bis zu ihrer Seele vordringen. Sie hat ein Jahrhundert voller Umwälzungen, hat die verheerendsten Epidemien und die Trauer um den Verlust ihrer Nächsten mit seltener Gefaßtheit überlebt und scheint durch die Wechselfälle des Lebens hindurchzugleiten wie die Nadel durch den Stoff. Für sich allein verkörpert Lalla Taos die ruhige Stärke der unwandelbaren Kabylei. Ich küsse sie aufs Haupt.
Sie umschlingt mich mit ihren mageren Armen und weicht ein wenig zurück, um mich anzusehen: »Was soll jetzt aus dir werden, Brahim, ohne deinen alten Freund?«
Sie bangt mehr um mich als um den Entschlafenen.
Sie war es, die mich aufgezogen hat. Ich war ihr Augapfel. Meine Streiche heiterten sie auf, meine schlechte Laune betrübte sie. Sie liebte mich so sehr, daß sie nicht zögerte, tagtäglich den steilen Hügel hochzuklettern, um meine Mutter aufzufordern, mich in Ruhe zu lassen, wenn ich mich wieder über sie geärgert hatte.
»Er war ein Heiliger«, antworte ich ihr.
»Um ihn mache ich mir keine Sorgen. Er war anständig. Garantiert genießt er da oben jetzt schon das süße Leben. Manchmal hat er sich zwar wie ein schlimmer Schlingel aufgeführt, aber Burschen wie er haben sich im großen und ganzen nicht viel vorzuwerfen. Der liebe Gott wird ihm höchstens die Ohren langziehen, um da oben keinen Neid aufkommen zu lassen, und ihn dann für den Rest der Ewigkeit in Ruhe lassen … Gedanken mach ich mir um dich!«
»Na, dann zieh mir doch auch die Ohren lang und fertig.«
Die Trauergäste haben sich rings um die Tische verteilt und sind wacker dabei, die Berge von Kuskus abzutragen.
»Komm«, tuschelt sie mir ins Ohr, »ich möchte dir was zeigen.«
Sie nimmt mich bei der Hand und führt mich in ein Zimmer mit rissigen Wänden.
»Damit wir uns gleich richtig verstehen«, bereitet sie mich vor: »Es bleibt alles hier.«
»Ich schwör’s dir.«
Mein Wort reicht ihr nicht aus. Sie verschränkt ihre Finger mit meinen und läßt uns mit den Händen schlenkern, weit ausholend, und dazu ein Schwur aus Kindertagen - wie in der guten alten Zeit. Jetzt erst ist sie ganz beruhigt, beginnt in den Tiefen eines vorsintflutlichen Schranks zu kramen, befördert ein Messingkästchen mit Vorhängeschloß ans Licht und macht es vor meinen Augen auf.
»Na, was ist das wohl?« jauchzt sie auf und hält mir triumphierend eine Steinschleuder hin.
»Mein astak!«
»So ist es. Hab ich dir damals eigenhändig gebastelt. Mein Gott! Was warst du neidisch auf die anderen Jungen! Und das da? Erinnerst du dich?« fragt sie weiter, während sie ein an allen vier Seiten zugenähtes Ledertäschchen hochhält. »Das war der Talisman, den du immer am Arm getragen hast. Er hat dich vor dem bösen Blick und vor üblem Umgang beschützt … Und das? Das errätst du nie. Das sollte deine allererste Chechia werden, aber du hast sie nie getragen. Ich bin diesem verflixten Hausierer aufgesessen. Ich hatte ja im Leben noch nie einen Büstenhalter gesehen. Ich dachte, daß das zwei Käppis sind und habe ihn gebeten, mir eines für dich abzuschneiden. Achour hat sich fast die Milz aus dem Leib gelacht, als ich es ihm gezeigt habe.«
Sie noch immer über diese Anekdote lachen zu sehen, die sich vor fünfzig Jahren zugetragen hat, sie dabei zu erleben, wie sie eines nach dem anderen die Relikte meiner Kindheit wie geweihte Reliquien hervorholt, unsere gemeinsame Geschichte wie ein Märchenbuch aufblättert und in höchste Verzückung gerät bei der Erinnerung an derart schlichte, naive Begebenheiten - welch ein Gefühl!
Zuletzt zieht sie mit unendlicher Zärtlichkeit und Behutsamkeit etwas hervor, was sie für ihr bestes Stück zu halten scheint, versteckt es hinter ihrem Rücken und spricht glänzenden Auges: »Rate mal, rate mal, was ich hier habe, mein Großer!« Und ich sehe ihre Augen, die aus ihrer Grisaille erwachen, sehe, wie die Tätowierungen auf ihrem Gesicht zu blühen beginnen, ihre ausgemergelten Schultern vor Begeisterung beben …
»Erinnerst du dich?« Und sie schwingt ein vergilbtes, fast gänzlich verblichenes Foto. »Erinnerst du dich?«
Das auf dem Foto ist sie, wie sie auf einem Maulesel sitzt, die Augen geschlossen in der gleißenden Sonne, das Kleid bis über die Knie hochgerafft, und sie strahlt, überglücklich, völlig hingerissen von diesem zerlumpten Bengel, der lachend neben ihr auf einem Baumstumpf steht.
»Mein Gott! Was war ich damals häßlich!«
»Du warst überhaupt nicht
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