Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
verkohlt. Eine Frau sitzt auf einem Stuhl, wundersamerweise unverletzt, blickt sich nur immerzu um, begreift nicht. Hinter dem Tresen züngelt eine Flamme empor, schlängelt sich an einem Vorhang hinauf und hat im Nu die Decke erreicht. Das Dach knistert, bricht auseinander und kracht mit Getöse zusammen.
Draußen ist der Teufel los. Schatten bewegen sich, laufen ineinander, durcheinander, ein halluzinierendes Schauspiel. Ihre Schreie vereinen sich zu einer ohrenbetäubenden, irrwitzigen, alles mitreißenden Sturzflut.
»Wo ist mein Sohn?« ruft flehentlich ein Vater, dem nur noch Fetzen am Leibe hängen, und klammert sich an die Leute. »Eben war er noch da. Gerade hier. Wo ist er?«
»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!« murmelt unablässig kopfschüttelnd ein Greis. »Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr …«
Das Feuer greift auf den Parkplatz über, verschlingt das erste Auto und beginnt, die anderen in einer surrealen kakophonen Geräuschkaskade explodieren zu lassen. Menschliche Fackeln schwanken durch die Nacht, Irrlichtern gleich, und ihre Bewegungen sind herzzerreißender als ihr Schreien.
Innerhalb weniger Minuten hat sich der Belvedere in einen Alptraum verwandelt, und die Hölle erscheint mir gnädiger als das Fegefeuer, das hier wütet.
Vergeblich versucht sie Auf einem Grashalm zu landen Schwerfällige Libelle Wandermönch Matsuo Bashö (1644-1694)
10
Zu sterben ist die größte Gemeinheit, die man seinen Freunden antun kann.
Da Achour ist nicht mehr von dieser Welt.
Er hat für vier gegessen, hat seine Zwanzig-Uhr-dreißig-Zigarette exakt um zwanzig Uhr dreißig geraucht, es sich in seinem Schaukelstuhl bequem gemacht, die Füße gegen die Balustrade gestützt, mit einem kleinen Hüftschwung den Stuhl in Bewegung gesetzt, und sich dann, die Lichter eines Frachters auf hoher See fest im Blick, still und leise rülpsend davongemacht.
Wäre ich in der Nähe gewesen, hätte ich sicher zwischen den Sternen den lieben Gott gesehen, der sich freut, ihn endlich unter den Seinen begrüßen zu können.
Er war, wenn man so will, meine Familie. Hatte in seinem Blick den dämmernden Abglanz des Heimwehs bewahrt. War ein Hort der Weisheit, war mein Igidher, meine verlorenen Jahre. Gott hat mit ihm ein gutes Geschäft gemacht, und ich, ich weiß nicht wohin.
Schon beginnt das Meer sein Klagelied, sammelt sich die Stille, ist die Welt öde und leer.
Da Achour war einer der Gerechten.
Er wird mir ungeheuer fehlen.
Er pflegte zu sagen: »Die Rassen, das sind nicht die Weißen, die Schwarzen, die Roten, die Gelben. Die Menschen wissen die Gaben der Natur nicht zu schätzen. Sie schauen mit Vorurteilen auf ihre Unterschiede und nennen es Rassentrennung. Aber die Rassen, das sind nicht die Araber, die Juden, die Slawen, die Tutsis. Die Menschen ziehen keine Lehre aus der Zeit. Stattdessen teilen sie die Ethnien in Kampftruppen ein. Sie trennen die Menschheit in oben und unten auf, um ihre eigene Nichtigkeit zu überspielen, darüber hinwegzutäuschen, wie ordinär sie selber sind … Wahre Rassen gibt es nur zwei: die Rasse der Aufrichtigen und die Rasse der Ruchlosen, die Ehrenwerten und die Ehrlosen. Seit Anbeginn der Zeiten stehen sie einander gegenüber, bekämpfen sich gnadenlos, das ist das Gleichgewicht der Dinge. Sie waren schon immer da, lange vor dem ,Licht’, lange vor dem ersten Prophetenwort, und sie werden alle Zivilisationen überdauern. Seit wir auf der Welt sind, lehrt man uns die Zwietracht und führt uns auf Irrwege, fern der Wahrheit. Man lehrt uns den Haß auf alles Andere, alles Abwesende, alles Fremde: ein künstlicher, wohlfeiler, auf Abruf verfügbarer Haß. Und sieh nur, Brahim, sieh: Wer setzt heute unsere Schulen in Brand, tötet unsere Brüder und Nachbarn, enthauptet unsere Gelehrten, überzieht unser junges Land mit Feuer und Blut? Sind es Außerirdische, sind es Malaien, sind es Animisten, sind es Christen? Es sind Algerier, niemand sonst als Algerier, dieselben Algierer, die vor noch nicht allzu langer Zeit lauthals in den Stadien die Nationalhymne sangen, die in Scharen den Geschädigten zu Hilfe eilten, die sich von den Benefizveranstaltungen im Fernsehen mobilisieren ließen. Und sieh sie dir heute an. Erkennst du dich in ihnen wieder? Ich nicht im geringsten … Die Menschen meiner Rasse, Brahim, das sind all jene, die es rund um den Globus entschieden ablehnen, daß solchen Monstern Pardon gewährt wird.«
Er war mein Allerheiligstes: Da Achour, er war
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