Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
erst siebzehn und schon ziemlich verbittert. Zu alt für die Schule, zu jung für eine feste Anstellung, zu allen Schand-taten bereit. Früher schaute er regelmäßig bei uns
vorbei, um meinem Jüngsten lukrative Gelegen-
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heitsjobs anzutragen, wie zum Beispiel den Handel
mit Klamotten aus Marseille. In letzter Zeit hat er sich auf Zigaretten verlegt. Als fliegender Händler.
Er betreibt an der Straßenecke einen zum Kleinki-
osk umgebauten Schubkarren. Von früh bis spät
klebt er auf seinem Hocker, mit ewig dudelndem
Kassettenrekorder, macht die Mädels an und ge-
währt den Arbeitslosen aus der Siedlung großmütig
Kredit.
Ich schiebe meine Pistole wieder ins Koppel.
„Hast du sie gesehen?“
Er fährt sich mit den Fingern durch seinen Karot-
tenschopf und nickt.
„Wie spät war’s denn?“
„Hmm …“
Ich schließe erst einmal die Tür ab, damit uns
keiner stören kommt und biete ihm einen Küchen-
stuhl an. Er schenkt sich ein Glas Wasser ein, leert es in einem Zug aus und wischt sich mit dem
Handgelenk über den Mund. Er wirkt verstört. Ich
warte, bis er sich gefangen hat, ehe ich zu fragen
beginne:
„Wie viele waren es denn?“
„Vier … drei waren in der Wohnung, der vierte
hat unten an der Treppe Wache geschoben.“
„Und wo warst du?“
„Im fünften Stock. Ich habe meine Einnahmen
gezählt. Sie waren zu Fuß, ich habe weder beim
Kommen noch beim Gehen ein Auto gehört. Die
Typen haben nicht lange auf dem Treppenabsatz
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rumgemacht. Sie hatten alle Schlüssel. Ich wollte
erst die Nachbarn alarmieren, aber sie waren be-
waffnet.“
„Kannst du sie mir beschreiben?“
„Sie waren verkleidet …“
„Wie denn?“
„Riesige Nasen, geschwungene Schnauzbärte,
aufgeklebte Augenbrauen und Baskenmützen. Ei-
ner von ihnen hat kurz seine Perücke angehoben,
um sich am Kopf zu kratzen. Die reinsten Kleider-
schränke. Der Schwächste hätte noch immer locker
hundert Kilo und mehr auf die Waage gebracht. Sie
sind gut zehn Minuten drinnen geblieben und dann
mit einem Einkaufskorb wieder rausgekommen.
Sie hatten es kein bißchen eilig.“
„Haben sie irgend etwas geredet?“
„Eigentlich kaum.“
„Und was für Waffen hatten sie?“
„Ge…“
Er stockt, hat Mühe zu schlucken, gießt sich noch
ein Glas Wasser ein und kippt es hinunter. Er
schwitzt. Der Schweiß rinnt ihm von den Schläfen
die Wangen hinunter und läuft am Kinn, welches
lang ist und spitz, quasi trichterförmig, wieder zusammen.
„Ich kann sie nicht identifizieren, Onkel Brahim.
Kenn mich nicht aus mit Waffen.“
„Macht nichts.“
Sein Gesicht, das von Sommersprossen übersät
ist, läuft feuerrot an. Er springt fast auf, während er 92
spricht: „Wenn ich ein Schießeisen dabei gehabt
hätte, dann hätte ich sie garantiert durchlöchert. Ich habe mich so geschämt, tatenlos rumsitzen zu müssen, während die alles kaputtgemacht haben. Ich
habe nicht mal ein Telefon, sonst hätte ich die Po-
lizei gerufen.“
Ich tätschele ihm die Wange zum Beweis, daß
ich ihm das wirklich nicht übelnehme.
„Du hast dir nichts vorzuwerfen, mein Junge.
Diese Typen, das waren keine gewöhnlichen Ta-
schendiebe. Die lassen sich von keiner Polizeisire-
ne in die Flucht schlagen. Das waren Killer. Eiskal-te Tötungsmaschinen, die jeden umlegen, ohne
Rücksicht auf Alter oder Geschlecht. Die hätten
nicht gezögert, dir den Schädel zu spalten, wenn du dich hättest blicken lassen. Du hast dich klug verhalten, ich kann dir nur gratulieren. Und jetzt hoch zu deiner Mutter. Und zu keinem ein Wort.“
„Ich bin ihnen nach, weißt du?“ Er läßt nicht lo-
cker, als schaffte er es nicht, sich von seinem
Schuldgefühl zu befreien. „Hinter der Fußgänger-
brücke hat ein Lieferwagen auf sie gewartet. Ein
Renault J-5. Beige. Ich habe mir die Nummer no-
tiert.“
Der polizeiliche Erkennungsdienst rückt in aller
Herrgottsfrühe in meiner Bude an. Ich habe nichts
angerührt. Um sie nicht zu behindern, verziehe ich
mich in die Küche und tue so, als gäbe es mich
nicht.
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Lino kommt mit hängenden Mundwinkeln zu mir
rüber. Meine Pechsträhne geht ihm derart nah, daß
er nicht weiß, wie er die Sache anpacken soll. Er
fürchtet meine Reaktion. Er setzt sich verkehrt her-um auf einen Stuhl, stützt das Kinn auf die Lehne
und versucht sich darin, meinen Blick zu bändigen.
Ich spüre seinen Kummer. Kein Zweifel, er leidet
unter meiner Amtsenthebung, als wäre
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