Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
seiner falschfrommen Gymnastik überra-
sche. Aber mich bewegt allein die Frage, wie er es
angestellt hat, zu seinem Schreibtisch zu kommen,
das Licht auf Grün umzuschalten und ins Interphon
zu sprechen, ohne sich aus seiner Rumpfbeuge zu
erheben. Ich muß mich gedulden, bis er mit seinem
Gemurmel fertig ist.
„Ich werde dir die Nase langziehen, bis deine
Ohren im Kopf verschwunden sind!“ ruft er beim
Aufstehen.
Und schon springt er mich an, um mich demonst-
rativ zu umarmen. „Du Oberschlawiner!“ jubelt er.
„Immer muß er seinen Rüssel in Dinge stecken, die
ihn nichts angehen! Unverbesserlicher Dreckskerl
von Aufrührer, du! Eine Zwangsjacke allein reicht
nicht aus, dich zu zähmen.“
Er schiebt mich von sich weg, um mich zu be-
trachten, zieht mich wieder an seine Catcherbrust
und sabbert mir das Gesicht voll. Ich fühle mich
wie im Auge des Orkans.
Schnell hat ihn seine Warmherzigkeit erschöpft.
Mit größter Behutsamkeit verstaut er mich in ei-
nem Sessel und geht einen Schritt zurück, die
Fäuste in die Hüften gestemmt. Als ob er es nicht
fassen könnte! Er bleibt vor mir stehen, froh und
gerührt, mich bei sich zu haben, vor seinen Augen,
in Fleisch und Blut – er, der die miesesten Berichte über mich verfaßt hat, er, der meinen Direktor be-drängt hat, mir das Rückgrat zu brechen, er, der
keine Sekunde gezögert hat, den Daumen nach
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unten zu richten, wenn ich mal wieder hilflos am
Boden lag und alle Viere von mir streckte.
„Heiliger Hurensohn einer verdammten Nutte!
Du ahnst nicht, wie froh ich bin, dich wiederzuse-
hen. Ist schon eine Weile her, stimmt’s?“
Salem und ich sind vom selben Examensjahr-
gang. Wir haben 1963 zusammen den Fortbil-
dungskurs für Ermittler besucht. Er ist überall
durchgefallen und wurde in die Verwaltung ver-
setzt. Er war jahrelang fürs Sozialwesen der Trup-
pe zuständig und hat, sowohl für sich selbst wie für seine Chefs, in allen Städten Paläste errichtet. Er hatte von Anfang an kapiert, wo’s langging. Algerien war in zwei Freihandelszonen aufgeteilt. Hier
das Revier der Intriganten, der Schleimscheißer
und Roßtäuscher, dort das der Erleuchteten, der
Sauertöpfe und Kinderfresser. Er hat sein Lager
gewählt und nie Grund zur Klage gehabt. Während
ich Verbrechern nachstellte, ging er in trüben Ge-
wässern fischen. Und in Ermangelung jeder Kom-
petenz – der Mutter aller Scherereien –, übte er
sich nicht ohne Erfolg im Fälschen von Rechnun-
gen und in Korruption. Resultat: Er ist steinreich, hat eine Abteilung unter sich, deren Arm weit in
die Délégation hineinreicht, und der Schrott, der
aus seinem Munde kommt, steht im Rang eines
unanfechtbaren Prophetenworts.
Er setzt sich mit halbem Hintern auf die Schreib-
tischkante, verschränkt die Finger überm Knie und
fährt fort, mich anzuhimmeln: „Der gute alte Bra-
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him! So ein sturer Bock! Was muß man nicht alles
in Bewegung setzen, um ihn endlich einmal zwi-
schen die Finger zu kriegen! Du hast dich kein Jota geändert, du Mistkerl! Erinnerst du dich noch an
unseren Fortbildungskurs im Ausbildungszentrum
von Soumaa? A propos, was wohl aus dieser Putz-
frau geworden ist, die wir uns von früh bis spät
streitig machten? Wie hieß sie doch gleich? War-
dia? Du erinnerst dich doch noch an ihr Fahrge-
stell? Verdammt, bei der habe ich nicht einen Gro-
schen beiseitelegen können.“ Er lacht polternd.
„Und Kada, der Brigadier? Bei Gott, den hast du
vielleicht an der Nase rumgeführt! Du hättest ihn
fast in die Klapsmühle gebracht …“
Plötzlich wird sein Teint fahl.
„Du warst ein richtiger Scherzkeks, Brahim. Ein-
same Spitze. Was ist bloß in deinem Kopf passiert,
daß du dich um 180 Grad gewendet hast?“
„Das kommt vom Wind, Hadi, alles nur vom
Wind.“
„Der Wind dreht sich, und die Wetterhähne
auch.“
„Nicht der Wind der Reden und Parolen.“
Seine Finger lösen sich, kriechen über seinen
Schenkel. Seine Miene verdüstert sich.
„Brahim, wir sind doch Freunde, oder nicht?“
„Wenn du das so siehst.“
„Ganz recht, das seh ich so. Mein Blick ist
scharf. Er reicht weiter als deine Schnod-
derschnauze, mit der du dir nur Ärger einhandelst.
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Es ist der Blick eines Mannes, der sich auskennt,
der weiß, woher er kommt, wohin er geht, was er
selbst will und was er besser anderen überläßt, was er kann und was nicht. Du dagegen, du rast mit
Volldampf auf den Abgrund
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