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Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Titel: Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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nur ein
    Scherz, aber der Direktor zog es vor, auf Nummer
    Sicher zu gehen. Ewegh wollte ihn wirklich nur
    festnehmen. Lebendig hätten wir einiges aus dem
    rausgekriegt, kannst du dir ja denken … War halt
    ein Unfall.“
    Ewegh rührt sich noch immer nicht. Er über-
    wacht den Parkplatz, sonst interessiert ihn nichts.
    124
    Lino wechselt plötzlich den Ton: „Willst du mir
    einen Gefallen tun, Kommy? Fahr zu Mina und
    den Kindern nach Béjaïa, oder geh nach Igidher
    zurück, oder laß von mir aus in Oran Gras über die
    Sache wachsen, aber häng nicht weiter hier herum.
    Ich bin überhaupt nicht beruhigt. Kein Mensch ist
    beruhigt …“
    Ich will ihm gerade zu verstehen geben, was ich
    – ehrlich gestanden – von seinen Ratschlägen halte, da zerplatzt plötzlich die Fensterfront in Millionen von Splittern. Ein Sog erfaßt mich und schleudert
    mich nach hinten. Um mich herum wildes Ge-
    schrei. Ich habe Mühe zu begreifen, was passiert
    ist. Ich liege am Boden, völlig entkräftet, zu
    schlapp, den Tisch, der auf mir liegt, wegzuschie-
    ben. Neben mir Lino, mit aufgerissenen Augen.
    Ewegh, alle Viere in der Luft, versucht, sich unter dem Berg von Stühlen, in den es ihn verschlagen
    hat, hochzurappeln.
    Im Teesalon herrscht blankes Chaos. Wer nahe
    der Eingangstür saß, ist unter Trümmern begraben.
    Unter den gliedlosen Marionetten erkenne ich den
    Kellner wieder. Er entdeckt soeben voll Entsetzen,
    daß sein Arm keine Rückmeldung gibt. Er kann es
    nicht fassen, ist leichenblaß, glaubt nicht, was er sieht. Eine Frau taumelt durch den Qualm, eine
    Kreatur wie aus einem Gespensterfilm, die Arme
    weit von sich gestreckt, das Gesicht von der Explo-
    sion weggerissen.
    „Wo ist meine Tasche?“ ruft ein Mädchen blut-

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    überströmt und wühlt verzweifelt im Staub.
    Den entstellten Mann vor ihrer Nase scheint sie
    nicht wahrzunehmen, und auch nicht das verstüm-
    melte Bein, aus dem sich das Blut über ihre Waden
    ergießt.
    „Eine Bombe! Eine Bombe!“ ruft jemand wie im
    Delirium.
    Ewegh steht als erster wieder auf, wirbelt eine
    Staublawine hoch. Er schiebt den Tisch, der mich
    fast erdrückt hat, zur Seite und hilft mir hoch. „Bist du okay?“
    Abgesehen von den Glassplittern im Arm habe
    ich nicht den Eindruck, verletzt zu sein.
    Lino stöhnt. Sein Fuß ist gräßlich verrenkt. „Mir
    tut mein Knöchel weh!“ ächzt er.
    Ein Mann taucht aus dem Rauch auf, mit
    schwärzlichem Gesicht, torkelt und bricht zusam-
    men, der Rücken verkohlt. Eine Frau sitzt auf ei-
    nem Stuhl, wundersamerweise unverletzt, blickt
    sich nur immerzu um, begreift nicht. Hinter dem
    Tresen züngelt eine Flamme empor, schlängelt sich
    an einem Vorhang hinauf und hat im Nu die Decke
    erreicht. Das Dach knistert, bricht auseinander und kracht mit Getöse zusammen.
    Draußen ist der Teufel los. Schatten bewegen
    sich, laufen ineinander, durcheinander, ein halluzinierendes Schauspiel. Ihre Schreie vereinen sich zu einer ohrenbetäubenden, irrwitzigen, alles mitrei-
    ßenden Sturzflut.
    „Wo ist mein Sohn?“ ruft flehentlich ein Vater,
    126
    dem nur noch Fetzen am Leibe hängen, und klam-
    mert sich an die Leute. „Eben war er noch da. Ge-
    rade hier. Wo ist er?“
    „Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!“ murmelt
    unablässig kopfschüttelnd ein Greis. „Es ist nicht
    wahr, es ist nicht wahr …“
    Das Feuer greift auf den Parkplatz über, ver-
    schlingt das erste Auto und beginnt, die anderen in einer surrealen kakophonen Geräuschkaskade explodieren zu lassen. Menschliche Fackeln schwan-
    ken durch die Nacht, Irrlichtern gleich, und ihre
    Bewegungen sind herzzerreißender als ihr Schrei-
    en.
    Innerhalb weniger Minuten hat sich der Belvédè-
    re in einen Alptraum verwandelt, und die Hölle
    erscheint mir gnädiger als das Fegefeuer, das hier
    wütet.

    127
    III

    Vergeblich versucht sie
    Auf einem Grashalm zu landen
    Schwerfällige Libelle
    Wandermönch Matsuo Bashô
    (1644-1694)

    10

    Zu sterben ist die größte Gemeinheit, die man sei-
    nen Freunden antun kann.
    Da Achour ist nicht mehr von dieser Welt.
    Er hat für vier gegessen, hat seine Zwanzig-Uhr-
    dreißig-Zigarette exakt um zwanzig Uhr dreißig
    geraucht, es sich in seinem Schaukelstuhl bequem
    gemacht, die Füße gegen die Balustrade gestützt,
    mit einem kleinen Hüftschwung den Stuhl in Be-
    wegung gesetzt, und sich dann, die Lichter eines
    Frachters auf hoher See fest im Blick, still und lei-se rülpsend davongemacht.
    Wäre ich in der Nähe

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