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Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Titel: Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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ja immer bergab.“
    „Na schön. Dann wollen wir mal.“

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    Imazighène ist ein Geisterdorf, einige Kabellängen
    von Igidher entfernt. Einst wurden dort die Wider-
    spenstigen des Stammes einquartiert, die sich wei-
    gerten, zu den Zuaven zu gehen* [* hier allgemein: sich in die französische Armee einberufen zu lassen. – Zoua-ven oder Zuaven (benannt nach einem algerischen Berber-stamm, der besonders tapfere Soldaten für das türkische Heer, dann für die Franzosen stellte) hießen die Mitglieder eines später nicht mehr ausschließlich aus Berbern bestehen-den französischen Kolonialcorps in türkischer Tracht.] .
    Während des Krieges fiel das Nest an die SAS** [**
    „Section administrative spécialisée“ = in etwa „Sonderver-waltungseinheit“, 1955 von den Franzosen zur psychologi-schen Kriegsführung gegen die Bevölkerung geschaffen.] .
    Nach 1962 beschloß es, weiterhin ein Ort der Aus-
    grenzung zu bleiben und ist seitdem von einer ge-
    radezu pathologischen Verweigerungshaltung.
    Keine Kinder, die schreien, keine Töpfe, die
    scheppern.
    Da liegt er, der Ort, am Ende eines Pfades, und
    verbirgt seine Misere verschämt hinter einem
    Bollwerk aus Feigenkakteen, so trostlos wie ein
    indianischer Friedhof. Seine Bewohner sind nach
    einem Massaker fortgezogen und haben den Fun-
    damentalisten ihre klägliche Herde und ihre armse-
    ligen Gerätschaften zurückgelassen. Ein Großteil
    der Hütten hat schon kein Dach mehr. Die Fassa-
    den der Innenhöfe sind rissig geworden und brö-
    ckeln im Wind. Alles ist still, nur die Zugluft
    schlägt munter über die Stränge, läßt Türen klap-
    pen und Fenster quietschen. Die Ratten haben die
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    modrigen Räume zu ihrem Reich erkoren. Und die
    Spinnen ihre hängenden Gärten von einer Mauer
    zur anderen gespannt, über das ganze Mobiliar
    hinweg. Außer einigen Greisen, die geisterhaft in
    den Eingängen hocken, klammert sich nur eine
    Handvoll Familien störrisch an ihren Bau, das Ge-
    wehr geschultert, das Auge waidwund.
    „Wir haben ihnen angeboten, sich nach Igidher
    zurückzuziehen, aber sie wollen ihre Gemüsegärten
    nicht aufgeben“, erklärt mir ein junger Patriot* [*
    „Patrioten“ oder „Selbstverteidigungsgruppen“ nennen sich in Algerien die von staatlicher Seite bewaffneten Milizen, die die Bevölkerung vor den islamistischen Terroristen beschützen bzw. selbst Anschläge und militärische Offensiven gegen die Terroristen durchführen. In einigen Gegenden ersetzen sie faktisch die Sicherheitskräfte.] . „Tagsüber tun sie, was sie können, und nachts schieben sie Wache.“
    „Wenn das noch lange so weitergeht“, bemerkt
    der Imam, „dann sterben sie, falls die roten
    Khmej** [** Unrat, Dreck] sie nicht vorher umbrin-gen, entweder an Angst oder an Schlaflosigkeit.“
    Der junge Mann streichelt seine Kalaschnikow
    und erklärt: „Wir patrouillieren von Zeit zu Zeit
    hier in der Gegend. Aber manchmal sind wir tage-
    lang zum Durchkämmen ganzer Gebiete weg, und
    dann fehlen uns die Leute.“
    Ich bleibe stehen, um einen Eindruck vom Aus-
    maß der Verluste zu gewinnen. Imazighène ist ein
    Symbol der Entsagung, malträtiert, traumatisiert,
    mißtrauisch geworden, und seine Gassen sind von
    einem wachsenden Übel verseucht: der Feindselig-

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    keit. Es ist die Feindseligkeit einer aus dem Sattel geworfenen Bevölkerung, deren Nerven bloßliegen
    und die sich weigert zu glauben, daß man schlicht
    aus Versehen in ihrem Ort landen kann.
    Als Kind kam ich oft hierher, um heimlich Loun-
    ja zu beobachten. Sie wohnte in einem Häuschen,
    das heute dem Erdboden gleich ist, dort auf der
    Anhöhe, hinter dem Kaktusstreifen. Jeden Morgen
    schlug sie den Weg zur Quelle ein, mit einem Ge-
    wand in den Farben des Sommers angetan, den
    Wasserkrug in vollendetem Gleichgewicht auf ih-
    rer flammenden Mähne balancierend. Lounja war
    elf Jahre alt und hatte einen azurblauen Blick.
    Wenn sie ihr kristallklares Lachen in die Lüfte
    warf, huschten mir seltsame Schauer über den Rü-
    cken.
    Der Imam wischt sich mit einem Zipfel vom
    Turban übers Gesicht. Er ist puterrot, als würde er gleich explodieren. Er beugt sich zu Arezki hinüber und erzählt:
    „1994 sind vierzig Hundesöhne aus den Wäldern
    dort drüben hervorgestürmt. In weniger als einer
    Stunde hatten sie alles geplündert. Bevor sie wie-
    der abgezogen sind, haben sie alle Familien auf
    dem Dorfplatz versammelt und ihnen eine Predigt
    gehalten. Dann haben sie als abschreckendes

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