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Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Titel: Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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mach ich
    mir um dich !“
    „Na, dann zieh mir doch auch die Ohren lang und
    fertig.“
    Die Trauergäste haben sich rings um die Tische
    verteilt und sind wacker dabei, die Berge von
    Kuskus abzutragen.
    „Komm“, tuschelt sie mir ins Ohr, „ich möchte
    dir was zeigen.“
    Sie nimmt mich bei der Hand und führt mich in
    ein Zimmer mit rissigen Wänden.
    „Damit wir uns gleich richtig verstehen“, bereitet
    sie mich vor: „Es bleibt alles hier.“
    „Ich schwör’s dir.“
    Mein Wort reicht ihr nicht aus. Sie verschränkt
    ihre Finger mit meinen und läßt uns mit den Hän-
    den schlenkern, weit ausholend, und dazu ein
    Schwur aus Kindertagen – wie in der guten alten
    Zeit. Jetzt erst ist sie ganz beruhigt, beginnt in den Tiefen eines vorsintflutlichen Schranks zu kramen,
    befördert ein Messingkästchen mit Vorhängeschloß
    ans Licht und macht es vor meinen Augen auf.
    „Na, was ist das wohl?“ jauchzt sie auf und hält
    mir triumphierend eine Steinschleuder hin.
    „Mein astak !“
    „So ist es. Hab ich dir damals eigenhändig gebas-
    telt. Mein Gott! Was warst du neidisch auf die an-
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    deren Jungen! Und das da? Erinnerst du dich?“
    fragt sie weiter, während sie ein an allen vier Seiten zugenähtes Ledertäschchen hochhält. „Das war
    der Talisman, den du immer am Arm getragen hast.
    Er hat dich vor dem bösen Blick und vor üblem
    Umgang beschützt … Und das? Das errätst du nie.
    Das sollte deine allererste Chéchia werden, aber du hast sie nie getragen. Ich bin diesem verflixten
    Hausierer aufgesessen. Ich hatte ja im Leben noch
    nie einen Büstenhalter gesehen. Ich dachte, daß das zwei Käppis sind und habe ihn gebeten, mir eines
    für dich abzuschneiden. Achour hat sich fast die
    Milz aus dem Leib gelacht, als ich es ihm gezeigt
    habe.“
    Sie noch immer über diese Anekdote lachen zu
    sehen, die sich vor fünfzig Jahren zugetragen hat,
    sie dabei zu erleben, wie sie eines nach dem ande-
    ren die Relikte meiner Kindheit wie geweihte Reli-
    quien hervorholt, unsere gemeinsame Geschichte
    wie ein Märchenbuch aufblättert und in höchste
    Verzückung gerät bei der Erinnerung an derart
    schlichte, naive Begebenheiten – welch ein Gefühl!
    Zuletzt zieht sie mit unendlicher Zärtlichkeit und
    Behutsamkeit etwas hervor, was sie für ihr bestes
    Stück zu halten scheint, versteckt es hinter ihrem
    Rücken und spricht glänzenden Auges: „Rate mal,
    rate mal, was ich hier habe, mein Großer!“ Und ich
    sehe ihre Augen, die aus ihrer Grisaille erwachen,
    sehe, wie die Tätowierungen auf ihrem Gesicht zu
    blühen beginnen, ihre ausgemergelten Schultern

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    vor Begeisterung beben …
    „Erinnerst du dich?“ Und sie schwingt ein ver-
    gilbtes, fast gänzlich verblichenes Foto. „Erinnerst du dich?“
    Das auf dem Foto ist sie, wie sie auf einem Maulesel sitzt, die Augen geschlossen in der glei-
    ßenden Sonne, das Kleid bis über die Knie hochge-
    rafft, und sie strahlt, überglücklich, völlig hingerissen von diesem zerlumpten Bengel, der lachend
    neben ihr auf einem Baumstumpf steht.
    „Mein Gott! Was war ich damals häßlich!“
    „Du warst überhaupt nicht häßlich, Brahim. Du
    warst wunderbar.“
    Sie fährt mir mit der Hand über meine stachligen
    Backen, legt den Kopf schräg in den Nacken und
    murmelt mütterlich, zärtlich, gerührt: „Du warst
    der Beste überhaupt.“

    11

    Mohand hat uns eindringlich davor gewarnt, uns
    über den hellgrauen Grat hinauszuwagen, der den
    Berg wie eine Messerklinge teilt. Hin und wieder
    tauchten Fundamentalisten im Dickicht auf, um das
    Dorf zu überwachen oder einen einsamen Hirten zu
    entführen. Sie zögerten auch nicht, hat er gesagt,
    auf alles zu schießen, was sich in Reichweite ihrer Gewehre befände, ehe sie wieder im Wald ver-140
    schwänden. Sie benutzten diese List, um die Pat-
    rioten in verheerende Fallen zu locken. Jetzt, wo
    ihre Tricks nichts mehr fruchteten, begnügten sie
    sich damit, die Leute auszuspähen und Unvorsich-
    tige, vor allem Kinder, die sich verlaufen haben,
    anzugreifen.
    Seit dem Morgen werden Arezki und ich aus der
    Ferne von zwei Schutzengeln bewacht, während
    wir uns von unseren Erinnerungen treiben lassen.
    Ich habe sie gleich gesehen, aber ich spiele den
    Ahnungslosen, um sie zu beflügeln.
    Wir erklimmen einen unförmigen kleinen Erdhü-
    gel, der unter unseren Schritten wegbröckelt. Die
    verdorrten Halme kratzen uns die Waden auf.
    Arezki macht tollkühne Anstrengungen, um sich
    nicht

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