Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
mach ich
mir um dich !“
„Na, dann zieh mir doch auch die Ohren lang und
fertig.“
Die Trauergäste haben sich rings um die Tische
verteilt und sind wacker dabei, die Berge von
Kuskus abzutragen.
„Komm“, tuschelt sie mir ins Ohr, „ich möchte
dir was zeigen.“
Sie nimmt mich bei der Hand und führt mich in
ein Zimmer mit rissigen Wänden.
„Damit wir uns gleich richtig verstehen“, bereitet
sie mich vor: „Es bleibt alles hier.“
„Ich schwör’s dir.“
Mein Wort reicht ihr nicht aus. Sie verschränkt
ihre Finger mit meinen und läßt uns mit den Hän-
den schlenkern, weit ausholend, und dazu ein
Schwur aus Kindertagen – wie in der guten alten
Zeit. Jetzt erst ist sie ganz beruhigt, beginnt in den Tiefen eines vorsintflutlichen Schranks zu kramen,
befördert ein Messingkästchen mit Vorhängeschloß
ans Licht und macht es vor meinen Augen auf.
„Na, was ist das wohl?“ jauchzt sie auf und hält
mir triumphierend eine Steinschleuder hin.
„Mein astak !“
„So ist es. Hab ich dir damals eigenhändig gebas-
telt. Mein Gott! Was warst du neidisch auf die an-
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deren Jungen! Und das da? Erinnerst du dich?“
fragt sie weiter, während sie ein an allen vier Seiten zugenähtes Ledertäschchen hochhält. „Das war
der Talisman, den du immer am Arm getragen hast.
Er hat dich vor dem bösen Blick und vor üblem
Umgang beschützt … Und das? Das errätst du nie.
Das sollte deine allererste Chéchia werden, aber du hast sie nie getragen. Ich bin diesem verflixten
Hausierer aufgesessen. Ich hatte ja im Leben noch
nie einen Büstenhalter gesehen. Ich dachte, daß das zwei Käppis sind und habe ihn gebeten, mir eines
für dich abzuschneiden. Achour hat sich fast die
Milz aus dem Leib gelacht, als ich es ihm gezeigt
habe.“
Sie noch immer über diese Anekdote lachen zu
sehen, die sich vor fünfzig Jahren zugetragen hat,
sie dabei zu erleben, wie sie eines nach dem ande-
ren die Relikte meiner Kindheit wie geweihte Reli-
quien hervorholt, unsere gemeinsame Geschichte
wie ein Märchenbuch aufblättert und in höchste
Verzückung gerät bei der Erinnerung an derart
schlichte, naive Begebenheiten – welch ein Gefühl!
Zuletzt zieht sie mit unendlicher Zärtlichkeit und
Behutsamkeit etwas hervor, was sie für ihr bestes
Stück zu halten scheint, versteckt es hinter ihrem
Rücken und spricht glänzenden Auges: „Rate mal,
rate mal, was ich hier habe, mein Großer!“ Und ich
sehe ihre Augen, die aus ihrer Grisaille erwachen,
sehe, wie die Tätowierungen auf ihrem Gesicht zu
blühen beginnen, ihre ausgemergelten Schultern
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vor Begeisterung beben …
„Erinnerst du dich?“ Und sie schwingt ein ver-
gilbtes, fast gänzlich verblichenes Foto. „Erinnerst du dich?“
Das auf dem Foto ist sie, wie sie auf einem Maulesel sitzt, die Augen geschlossen in der glei-
ßenden Sonne, das Kleid bis über die Knie hochge-
rafft, und sie strahlt, überglücklich, völlig hingerissen von diesem zerlumpten Bengel, der lachend
neben ihr auf einem Baumstumpf steht.
„Mein Gott! Was war ich damals häßlich!“
„Du warst überhaupt nicht häßlich, Brahim. Du
warst wunderbar.“
Sie fährt mir mit der Hand über meine stachligen
Backen, legt den Kopf schräg in den Nacken und
murmelt mütterlich, zärtlich, gerührt: „Du warst
der Beste überhaupt.“
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Mohand hat uns eindringlich davor gewarnt, uns
über den hellgrauen Grat hinauszuwagen, der den
Berg wie eine Messerklinge teilt. Hin und wieder
tauchten Fundamentalisten im Dickicht auf, um das
Dorf zu überwachen oder einen einsamen Hirten zu
entführen. Sie zögerten auch nicht, hat er gesagt,
auf alles zu schießen, was sich in Reichweite ihrer Gewehre befände, ehe sie wieder im Wald ver-140
schwänden. Sie benutzten diese List, um die Pat-
rioten in verheerende Fallen zu locken. Jetzt, wo
ihre Tricks nichts mehr fruchteten, begnügten sie
sich damit, die Leute auszuspähen und Unvorsich-
tige, vor allem Kinder, die sich verlaufen haben,
anzugreifen.
Seit dem Morgen werden Arezki und ich aus der
Ferne von zwei Schutzengeln bewacht, während
wir uns von unseren Erinnerungen treiben lassen.
Ich habe sie gleich gesehen, aber ich spiele den
Ahnungslosen, um sie zu beflügeln.
Wir erklimmen einen unförmigen kleinen Erdhü-
gel, der unter unseren Schritten wegbröckelt. Die
verdorrten Halme kratzen uns die Waden auf.
Arezki macht tollkühne Anstrengungen, um sich
nicht
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