Commissario Montalbano 02 - Der Hund aus Terracotta
Zito in Montelusa an, nannte ihm einen Namen und bekam eine Telefonnummer in Palermo, die er sofort wählte.
»Professor Ricardo Lovecchio?«
»Am Apparat.«
»Unser gemeinsamer Freund Nicolò Zito hat mir Ihre Nummer gegeben.«
»Wie geht's dem alten Rotschopf? Ich habe ihn schon ewig nicht gesehen.«
Der Lautsprecher, der die Passagiere des Flugs nach Rom aufforderte, sich zum Schalter zu begeben, brachte Montalbano auf eine Idee, wie er seinem Besuch besondere Dringlichkeit verleihen konnte.
»Nicolò geht's gut, ich soll Sie von ihm grüßen. Hören Sie, Professore, ich heiße Montalbano, bin am Flughafen Punta Ràisi und habe etwa vier Stunden Zeit, bevor ich weiterfliege. Ich muß mit Ihnen sprechen.« Der Lautsprecher wiederholte die Aufforderung, als stecke er mit dem Commissario, der Antworten brauchte, und zwar sofort, unter einer Decke.
»Sind Sie Commissario Montalbano aus Vigàta, der die beiden Toten in der Grotte gefunden hat? Ja? So ein Zufall! Ich wollte Sie in diesen Tagen anrufen! Kommen Sie zu mir nach Hause, ich erwarte Sie, notieren Sie sich die Adresse.«
»Ich zum Beispiel habe vier Tage und vier Nächte am Stück geschlafen, ohne Essen und Trinken. Für den Schlaf gesorgt haben etwa zwanzig Joints, fünf Ficks und ein Schlag auf den Kopf von der Polizei. Das war 1968. Meine Mutter machte sich Sorgen, sie wollte einen Arzt holen, weil sie mich im tiefen Koma glaubte.«
Professor Lovecchio sah aus wie ein Bankangestellter, wirkte nicht wie fünfundvierzig, und ein Anflug von Verrücktheit glitzerte in seinen Augen. Es war elf Uhr vormittags, und er trank Whisky pur.
»An meinem Schlaf war nichts Wunderbares«, fuhr Lovecchio fort, »für ein Wunder muß man schon ein Nickerchen von mindestens zwanzig Jahren halten. Im Koran, ich glaube, in der zweiten Sure, steht, daß ein Mann, in dem die Kommentatoren Ezra sehen, hundert Jahre lang geschlafen hat. Der Prophet Salih hat immerhin zwanzig Jahre lang geschlafen, ebenfalls in einer Höhle, die ja kein gemütlicher Platz zum Schlafen ist. Die Juden stehen dem nicht nach, sie rühmen im Jerusalemer Talmud einen gewissen Hammaagel, der siebzig Jahre lang schlief, natürlich auch in einer Grotte. Und nicht zu vergessen die Griechen! Epimenides ist nach fünfzig Jahren in einer Höhle aufgewacht. Tja, damals brauchte es nur eine Höhle und einen, der todmüde war, damit ein Wunder geschah. Wie lange haben denn der Junge und das Mädchen geschlafen, die Sie gefunden haben?«
»Von 1943 bis 1994, fünfzig Jahre lang.«
»Genau die richtige Zeit, um geweckt zu werden. Verkompliziert es Ihre Schlußfolgerungen, wenn ich Ihnen sage, daß man im Arabischen ‚sterben’ und ‚schlafen’ mit ein und demselben Wort bezeichnet? Und daß auch für »aufwachen« und ‚aufwecken’ nur ein Wort verwendet wird?«
»Professore, es ist wunderbar, Ihnen zuzuhören, aber ich muß zum Flughafen, meine Zeit ist sehr knapp. Warum wollten Sie mich eigentlich anrufen?«
»Um Ihnen zu sagen, daß Sie nicht auf den Hund reinfallen dürfen. Der Hund scheint sich nicht auf den Krug zu reimen und umgekehrt. Verstehen Sie?«
»Nein.«
»Sehen Sie, die Legende der Schlafenden ist nicht orientalischen, sondern christlichen Ursprungs. In Europa verbreitete sie Gregor von Tours. Er spricht von sieben Jünglingen aus Ephesos, die, um der Christenverfolgung unter Kaiser Decius zu entgehen, in eine Höhle fliehen, wo Gott dafür sorgt, daß sie einschlafen. Die Höhle von Ephesos existiert wirklich, sie ist sogar in der Treccani-Enzyklopädie abgebildet. Man errichtete über ihr ein Heiligtum, das später wieder abgerissen wurde. Nun, die christliche Legende erzählt, daß in der Höhle eine Quelle war. Sobald die Schlafenden aufwachten, tranken sie erst und schickten dann einen von ihnen auf die Suche nach etwas Eßbarem. Aber an keiner Stelle ist in der christlichen Legende, auch nicht in ihren unzähligen europäischen Varianten, von einem Hund die Rede. Der Hund, der Kytmyr heißt, ist schlicht und einfach eine poetische Schöpfung Mohammeds, der die Tiere so sehr liebte, daß er sich einen Hemdsärmel abschnitt, um die Katze nicht zu wecken, die darauf schlief.«
»Ich blicke nicht mehr durch«, sagte Montalbano.
»Aber es ist doch ganz einfach, Commissario! Ich wollte nur sagen, daß der Krug ein Symbol für die Quelle in der Höhle von Ephesos ist. Daraus schließen wir: Der Krug, der also zur christlichen Legende gehört, paßt nur dann zu dem Hund, der eine
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