Commissario Montalbano 03 - Der Dieb der süssen Dinge
Frau, Dottori.«
Aisha! Er rannte hinaus, ohne Aliotta auf Wiedersehen zu sagen.
Aisha saß vor ihrem Haus und war in Tränen aufgelöst. Nein, Karima und Francois seien nicht zurückgekommen, sie habe ihn aus einem anderen Grund angerufen. Sie erhob sich und bat ihn ins Haus. Das Zimmer war auf den Kopf gestellt, sie hatten sogar die Matratze aufgeschlitzt. Und das Sparbuch, war das etwa weg? Nein, das hätten sie nicht gefunden, lautete Aishas beruhigende Antwort. Im oberen Stock, wo Karima wohnte, sah es noch schlimmer aus: Ein paar Fliesen waren aus dem Boden gerissen, ein Spielzeug von Francois, ein kleiner Lastwagen aus Plastik, war zertrümmert. Die Fotos waren verschwunden, auch die, die Karima als Ware zeigten. Der Commissario dachte, daß er zum Glück ein paar von diesen Fotos mitgenommen hatte.
Aber die mußten doch einen furchtbaren Lärm gemacht haben! Wo hatte Aisha sich in der Zeit versteckt? Sie habe sich nicht versteckt, erklärte sie, sondern sei am Tag vorher zu einer Freundin nach Montelusa gefahren. Es war spät geworden, und sie war über Nacht geblieben. Gott sei dank: Wenn sie im Haus gewesen wäre, hätten sie sie bestimmt umgebracht. Sie mußten im Besitz des Hausschlüsseis sein, denn keine der beiden Türen war aufgebrochen. Bestimmt waren sie nur gekommen, um die Fotos an sich zu nehmen; alles wollten sie von Karima verschwinden lassen, sogar die Erinnerung daran, wie sie aussah. Montalbano sagte der Alten, sie solle ein paar Sachen zusammenpacken, er selbst werde sie nach Montelusa zu ihrer Freundin bringen. Vorsichtshalber solle sie ein paar Tage dort bleiben. Aisha stimmte traurig zu. Der Commissario machte ihr begreiflich, daß er, solange sie ihre Abreise vorbereite, schnell noch zum nächsten Tabaccaio fahre, was höchstens zehn Minuten dauern werde.
Kurz vor dem Tabaccaio sah er vor der Grundschule in Villaseta eine Ansammlung wild gestikulierender kreischender Mütter und weinender Kinder. Sie belagerten zwei Verkehrspolizisten aus Vigàta, die hierher versetzt worden waren und die Montalbano kannte. Er fuhr weiter und kaufte seine Zigaretten, aber auf der Rückfahrt plagte ihn die Neugierde doch zu sehr. Achtunggebietend bahnte er sich, ganz betäubt von dem Geschrei, einen Weg. »Sogar Sie holt man wegen so einem Quatsch?« fragte ihn einer der Polizisten erstaunt. »Nein, ich bin zufällig hier. Was gibt's denn?« Die Mütter hatten die Frage gehört und antworteten im Chor, mit dem Ergebnis, daß der Commissario überhaupt nichts verstand. »Ruhe!« brüllte er.
Die Mütter schwiegen, aber die Kinder weinten vor Schreck noch lauter.
»Commissario, es ist lächerlich«, sagte der Polizist von vorher. »Anscheinend war schon gestern ein kleiner Junge hier, der die anderen Kinder angegriffen hat, als sie in die Schule kamen. Er hat ihnen ihre Vesper weggenommen und ist wieder abgehauen. Heute früh hat er es noch mal gemacht.«
»Taliasse ecá, schauen Sie sich das an!« mischte sich eine Mutter ein und zeigte Montalbano einen Jungen, dessen Augen von Fausthieben ganz geschwollen waren. »Mein Sohn wollte ihm seinen Eierkuchen nicht geben, da hat der ihn geschlagen. Er hat ihm weh getan!« Der Commissario beugte sich hinunter und streichelte dem Jungen über den Kopf. »Wie heißt du denn?«
»Ntonio«, antwortete der Kleine, stolz, daß er der Auserwählte war.
»Kennst du den Jungen, der dir den Eierkuchen weggenommen hat?«
»Nein.«
»Hat ihn jemand erkannt?« fragte der Commissario laut. Ein Nein im Chor.
Montalbano beugte sich wieder zu Ntonio hinunter. »Wie hat er denn gesagt, daß er deinen Eierkuchen haben will?«
»Er hat ausländisch geredet. Ich hab' nichts verstanden. Da hat er mir den Schulranzen runtergerissen und aufgemacht. Ich wollte ihn wiederhaben, und da hat er mich zweimal gehauen. Er hat den Eierkuchen genommen und ist weggerannt.«
»Weiterermitteln!« befahl Montalbano den beiden Verkehrspolizisten und brachte es merkwürdigerweise fertig, ernst zu bleiben.
In den Zeiten, als die Muselmanen in Sizilien waren und Montelusa Kerkent hieß, hatten die Araber am Rand des Dorfes ein Viertel errichtet, in dem sie unter sich waren. Als die Muselmanen besiegt und geflohen waren, zogen Leute aus Montelusa in ihre Häuser, und das Viertel bekam den sizilianischen Namen Rabàtu. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde es von einem gewaltigen Erdrutsch verschlungen. Die wenigen stehengebliebenen Häuser waren beschädigt und schief und
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