Commissario Montalbano 04 - Die Stimme der Violine
seine Herzpillen, er war ganz blass. Ich bin so erschrocken! Gibt es sonst noch was?«
Sechzehn
Als der Commissario morgens ins Büro kam, trug er einen grauen Anzug, ein blassblaues Hemd, eine Krawatte in einer gedeckten Farbe und schwarze Schuhe.
»Du siehst aus wie ein Dressman«, sagte Mimi Augello.
Montalbano konnte ihm ja schlecht erzählen, dass er sich so gekleidet hatte, weil er schon um halb zehn in ein Geigenkonzert gehen wollte. Mimi hätte ihn für verrückt erklärt. Und mit Recht, denn die ganze Geschichte war ein bisschen wie aus dem Irrenhaus.
»Ich muss doch zur Trauerfeier«, brummte er.
Als er in sein Zimmer kam, klingelte das Telefon.
»Salvo? Hier ist Anna. Guido Serravalle hat mich vorhin angerufen.«
»Aus Bologna?«
»Nein, aus Montelusa. Er sagte, Michela hätte ihm vor einiger Zeit meine Nummer gegeben. Er wusste, dass wir befreundet waren. Er ist wegen der Trauerfeier hier und wohnt im della Valle. Er hat mich gefragt, ob wir danach zusammen Mittagessen gehen, er reist am Nachmittag wieder ab. Was soll ich tun?«
»Inwiefern?«
»Ich weiß nicht, aber mir ist nicht wohl bei dem Gedanken.«
»Warum denn das?«
»Commissario? Hier ist Emanuele Licalzi. Kommen Sie zur Trauerfeier?«
»Ja. Um wie viel Uhr ist sie?«
»Um elf. Danach fährt der Leichenwagen direkt von der Kirche nach Bologna. Gibt es Neuigkeiten?«
»Im Augenblick nichts Wichtiges. Bleiben Sie länger in Montelusa?«
»Bis morgen früh. Ich muss wegen des Verkaufs der Villa mit einem Maklerbüro sprechen. Am Nachmittag fahre ich mit einem Mitarbeiter des Büros zur Besichtigung hin. Ach ja, gestern habe ich im Flugzeug Guido Serravalle getroffen, er ist wegen der Trauerfeier hier.«
»Das war bestimmt peinlich«, entfuhr es dem Commissario.
»Finden Sie?«
Dottor Emanuele Licalzi hatte sein Visier wieder heruntergeklappt.
»Kommen Sie schnell, es fängt gleich an«, sagte Signora Clementina und führte ihn in die Kammer neben dem Wohnzimmer. Bekümmert nahmen sie Platz. Die Signora trug zur Feier des Tages ein langes Kleid. Sie sah aus wie eine Dame von Boldini, nur ein bisschen in die Jahre gekommen.
Punkt halb zehn fing Maestro Barbera an zu spielen. Schon nach fünf Minuten hatte der Commissario ein merkwürdiges Gefühl, das ihn verwirrte. Es war ihm, als würde der Geigenton plötzlich zu einer Stimme, zur Stimme einer Frau, die darum bat, angehört und verstanden zu werden. Langsam, aber immer deutlicher verwandelten sich die Töne in Silben, vielmehr in Laute, und drückten dennoch eine Art Klage aus, den Gesang eines uralten Schmerzes, der sich hin und wieder in einer brennenden, mysteriösen Tragik zuspitzte. Diese ergriffene Frauenstimme sagte, es gebe ein schreckliches Geheimnis, das nur derjenige verstehen könne, der sich dem Klang, der Woge des Klangs, vollkommen hinzugeben vermochte. Tief bewegt und verstört schloss Montalbano die Augen. Aber im Stillen wunderte er sich auch: Wie kam es, dass diese Geige seit dem letzten Mal, als er sie gehört hatte, ihr Timbre derart verändert hatte? Die Augen immer noch geschlossen, ließ er sich von der Stimme führen. Und sah sich selbst in die Villa gehen, den Salon durchqueren, die kleine Vitrine öffnen, den Geigenkasten in die Hand nehmen - Das war es also, was ihm keine Ruhe gelassen hatte, das Detail, das nicht zu dem Ganzen passte! Das gleißend helle Licht, das in seinem Kopf explodierte, ließ ihn aufstöhnen.
»Sind Sie auch so ergriffen?«, fragte Signora Clementina und wischte sich eine Träne ab. »So hat er noch nie gespielt.«
Das Konzert musste in diesem Augenblick zu Ende gewesen sein, denn die Signora schloss das Telefon, das sie vorher ausgesteckt hatte, wieder an, wählte und applaudierte.
Diesmal tat es ihr der Commissario nicht nach, sondern nahm den Telefonhörer in die Hand.
»Maestro? Hier spricht Commissario Montalbano. Ich muss unbedingt mit Ihnen reden.«
»Ich mit Ihnen auch.«
Montalbano legte auf, dann beugte er sich schwungvoll hinunter, umarmte Signora Clementina, küsste sie auf die Stirn und ging.
Die Haushälterin und Hausdame öffnete die Tür. »Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
Cataldo Barbera kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen.
Als Montalbano die beiden Treppen hinaufging, hatte er sich überlegt, wie der Maestro wohl gekleidet war. Er hatte ganz richtig gelegen: Der Maestro, ein zierlicher Mann mit schneeweißem Haar und kleinen, aber durchdringend blickenden schwarzen Augen, trug
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