Commissario Montalbano 04 - Die Stimme der Violine
unerfindlichen Gründen nach Vigàta zurückgezogen und sich dort eine Wohnung gekauft, in der er als freiwilliger Gefangener lebte.
»Was spielt er denn?«, fragte Montalbano.
Signora Clementina reichte ihm ein kariertes Blatt Papier.
Der Maestro pflegte der Signora am Tag vor dem Konzert das mit Bleistift geschriebene Programm zu schicken. Die Stücke jenes Tages waren die Danza spagnola von Sarasate und die Scherzo-Tarantella op. 16 von Wieniawski. Als das Konzert zu Ende war, steckte Signora Vasile Cozzo das Telefon wieder ein, wählte eine Nummer, legte den Hörer auf die Ablage an ihrem Rollstuhl und applaudierte. Montalbano tat es ihr von ganzem Herzen nach: Er verstand nichts von Musik, aber eines wusste er sicher: dass Cataldo Barbera ein großer Künstler war.
»Signora«, fing der Commissario an, »mein Besuch bei Ihnen ist eigennützig, ich muss Sie um einen Gefallen bitten.«
Er fuhr fort und erzählte ihr alles, was ihm tags zuvor passiert war - der Unfall, das verwechselte Begräbnis, der heimliche nächtliche Besuch in der kleinen Villa, die Entdeckung der Leiche. Als er fertig war, zögerte der Commissario, er wusste nicht, wie er seine Bitte formulieren sollte.
Signora Clementina, die abwechselnd amüsiert und erschüttert war, ermutigte ihn:
»Nur zu, Commissario, raus mit der Sprache. Was wollen Sie von mir?«
»Ich möchte, dass Sie einen anonymen Anruf tätigen«, sagte Montalbano in einem Atemzug.
Er war seit zehn Minuten wieder im Büro, als Catarella ihm einen Anruf von Dottor Lattes, dem Chef des Stabes in der Questura, durchstellte.
»Mein lieber Montalbano, wie geht's? Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, sagte Montalbano kühl.
»Ich freue mich, dass Sie bei guter Gesundheit sind«, sagte der Chef des Stabes, nur um seinem Spitznamen Lattes e Mieles gerecht zu werden, mit dem ihn jemand wegen seiner honigsüßen Gefährlichkeit bedacht hatte.
»Zu Ihren Diensten«, drängte Montalbano ihn.
»Ecco. Vor einer knappen Viertelstunde hat eine Frau in der Telefonzentrale der Questura angerufen und wollte persönlich mit Signor Questore sprechen. Sie ließ sich nicht abwimmeln. Aber der Questore war beschäftigt und hat mich angewiesen, den Anruf entgegenzunehmen. Die Frau war ganz hysterisch, sie schrie, in einer Villa in der Contrada Tre Fontane sei ein Verbrechen verübt worden.
Dann hat sie wieder aufgelegt. Der Questore bittet Sie, auf alle Fälle mal hinzufahren und ihm zu berichten. Die Signora sagte auch, die kleine Villa sei leicht zu erkennen, weil ein flaschengrüner Twingo davorsteht.«
»O Dio!«, rief Montalbano - jetzt begann Teil zwei seiner Rolle, denn Signora Clementina Vasile Cozzo hatte die ihre mit Bravour gespielt.
»Was ist denn?«, fragte Dottor Lattes neugierig.
»Was für ein merkwürdiger Zufall!«, rief Montalbano und legte Erstaunen in seine Stimme. »Ich berichte Ihnen später.«
»Pronto? Hier ist Commissario Montalbano. Spreche ich mit Giudice Tommaseo?«
»Ja. Buongiorno. Was kann ich für Sie tun?«
»Dottor Tommaseo, der Stabschef des Questore hat mir eben mitgeteilt, dass eine anonyme Anruferin ein Verbrechen in einer Villa in der Gemarkung von Vigàta gemeldet hat. Er hat mich beauftragt, mal nachzuschauen. Ich will gerade hinfahren.«
»Ist das nicht möglicherweise nur ein schlechter Scherz?«
»Möglich ist alles. Ich wollte Sie in Anerkennung Ihrer unabdingbaren Vorrechte in Kenntnis setzen.«
»Natürlich«, sagte Giudice Tommaseo zufrieden.
»Geben Sie mir Handlungsfreiheit?«
»Selbstverständlich. Und wenn dort wirklich ein Verbrechen begangen wurde, dann benachrichtigen Sie mich umgehend und warten, bis ich komme.«
Er rief Fazio, Gallo und Galluzzo zu sich und teilte ihnen mit, sie müssten mit ihm in die Contrada Tre Fontane fahren und nachsehen, ob dort ein Mord begangen wurde.
»Ist es das Haus, über das ich mich informieren sollte?«, fragte Fazio erstaunt.
Gallo setzte noch eins drauf: »Dasselbe, vor dem wir den Twingo zusammengefahren haben?« Er sah seinen Chef verdutzt an.
»Ja«, antwortete der Commissario allen beiden und setzte ein bescheidenes Gesicht auf.
»Sie haben aber einen guten Riecher!«, rief Fazio bewundernd aus.
Sie hatten sich gerade erst auf den Weg gemacht, doch Montalbano war bereits genervt: genervt von der Farce, die er würde spielen müssen, indem er sich beim Anblick der Leiche überrascht gab, genervt, weil der Richter, der Gerichtsmediziner, die Spurensicherung imstande waren, erst nach
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