Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
Agenturen und flehten Gargano an, er möge ihr Geld an sich nehmen. Der Ragioniere willigte großherzig ein. Bei dieser zweiten Gruppe gesellten sich zu den Alten auch junge Leute, die scharf darauf waren, möglichst schnell Geld zu machen. Am Ende des zweiten Halbjahres kletterte die Rendite der ersten Kunden auf dreiundzwanzig Prozent. Die Geschichte bekam zusehends Rückenwind, doch am Ende des vierten Halbjahres erschien Emanuele Gargano nicht mehr. Die Angestellten der Agenturen und die Kunden warteten zwei Tage und beschlossen dann, in Bologna anzurufen; dort sollte sich die Generaldirektion der »König Midas« befinden, wie die Vermögensberatung des Ragioniere hieß. Am Telefon meldete sich niemand. Man forschte rasch nach und stellte fest, dass die gemieteten Geschäftsräume der »König Midas« dem rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben worden waren, und der wiederum war wütend, weil er schon monatelang keine Miete bekommen hatte. Nach einer Woche vergeblicher Suche, ohne dass in Vigàta und Umgebung auch nur der Schatten des Ragioniere gesichtet worden wäre, und nach zahlreichen turbulenten Übergriffen auf die Agenturen durch jene, die ihr Geld verloren hatten, entwickelten sich zwei Theorien über das mysteriöse Verschwinden des Buchhalters.
Die erste behauptete, Emanuele Gargano sei unter falschem Namen auf eine Südseeinsel gezogen, wo er sich mit halb nackten Schönheiten auf Kosten derer amüsiere, die ihm gutgläubig ihre Ersparnisse anvertraut hätten. Die zweite Theorie besagte, Gargano habe sich unvorsichtigerweise das Geld irgendeines Mafioso unter den Nagel gerissen und produziere jetzt ein paar Meter unter der Erde Kompost oder diene als Fischfutter. In ganz Montelusa und Provinz gab es nur eine Frau, die anderer Auffassung war. Eine einzige, und die hieß Mariastella Cosentino.
Mariastella, fünfzig Jahre alt, untersetzt und ohne Grazie, hatte sich bei der Agentur in Vigàta beworben und die Stelle nach einer ebenso kurzen wie intensiven Unterredung mit dem Ragioniere persönlich auch bekommen. So sagte man. Die Unterredung war kurz gewesen, aber für die Frau lang genug, um sich unsterblich in den Chef zu verlieben. Für Mariastella, die nach ihrer Buchhalterprüfung viele Jahre im Haushalt geholfen hatte, erst bei Vater und Mutter und dann bis zu seinem Tod bei dem immer anspruchsvolleren Vater, war dies zwar die zweite Stelle, aber bestimmt die erste Liebe. Mariastella war nämlich von Geburt an einem entfernten Cousin versprochen gewesen, den sie nur auf einer Fotografie gesehen und nie persönlich kennen gelernt hatte, weil er als Junge an einer unbekannten Krankheit gestorben war. Aber jetzt lagen die Dinge anders, denn diesmal sah Mariastella ihren Angebeteten mehrmals gesund und munter und eines Morgens aus so großer Nähe, dass sie sogar sein Rasierwasser riechen konnte. Da tat sie etwas sehr Verwegenes, was sie sich nie und nimmer zugetraut hätte: Sie fuhr mit dem Bus nach Fiacca zu einer Verwandten, die eine Parfümerie hatte, und fand, nacheinander an allen Fläschchen schnuppernd, bis sie Kopfschmerzen bekam, das Rasierwasser wieder, das ihr Schatz benutzte. Sie kaufte ein Fläschchen und bewahrte es in der Schublade ihres Nachtkästchens auf. Wenn sie nachts aufwachte, allein in ihrem Bett, allein in dem großen, menschenleeren Haus, und Traurigkeit sie beschlich, dann öffnete sie das Fläschchen, sog den Duft ein, flüsterte »Bonanotti, amuri mè, gute Nacht, Liebster«, und konnte dann wieder einschlafen. Mariastella war überzeugt, dass Ragioniere Emanuele Gargano nicht mit den Geldeinlagen untergetaucht und erst recht nicht wegen irgendeiner nicht eingehaltenen Vereinbarung von der Mafia ermordet worden war. Bei der Befragung durch Mimi Augello (Montalbano hatte sich auf diesen Fall gar nicht einlassen wollen, weil er fand, er habe keinen blassen Schimmer von Geldangelegenheiten) hatte Signorina Cosentino ausgesagt, der Ragioniere leide ihres Erachtens unter einer momentanen Amnesie und werde früher oder später wieder auftauchen und dann die bösen Zungen zum Schweigen bringen. Sie hatte mit solch glühender Inbrunst gesprochen, dass Augello beinahe selbst daran glaubte.
In ihrem unerschütterlichen Glauben an die Ehrlichkeit des Ragioniere öffnete Mariastella jeden Morgen das Büro und wartete auf die Rückkehr ihres Liebsten. Alle in der Stadt lachten über sie. All jene, versteht sich, die mit dem Ragio niere
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