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Commissario Montalbano 07 - Das kalte Lächeln des Meeres

Commissario Montalbano 07 - Das kalte Lächeln des Meeres

Titel: Commissario Montalbano 07 - Das kalte Lächeln des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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zum Aussteigen. Als Erste erschien eine Schwarze mit einem so dicken Bauch, dass sie jeden Moment niederzukommen schien. Sie konnte keinen Schritt tun. Ein Matrose des Patrouillenbootes und ein Schwarzer halfen ihr. Als sie den Krankenwagen erreichten, entbrannte ein Streit, weil der Mann zusammen mit der Frau einsteigen wollte. Der Matrose versuchte den Polizisten zu erklären, dass es sich bestimmt um den Ehemann handelte, denn er hatte sie während der ganzen Überfahrt im Arm gehalten. Aber sie ließen nicht mit sich reden. Der Krankenwagen fuhr mit Sirenengeheul davon. Da hakte der Matrose den weinenden Mann unter und brachte ihn, auf ihn einredend, zum Bus. Neugierig trat der Commissario näher. Der Matrose sprach Dialekt, er musste aus Venedig oder der Gegend dort stammen, und der Afrikaner verstand kein Wort, aber er fühlte sich von dem freundlichen Tonfall getröstet.
    Montalbano wollte gerade wieder zu seinem Auto gehen, als ihm eine Gruppe von vier Flüchtlingen am Ende der Gangway auffiel, die wie Betrunkene wankten. Zuerst begriff er nicht, was los war. Dann schlüpfte ein höchstens sechsjähriger Junge zwischen den Beinen der vier hindurch. Im Nu wischte er durch die Polizeiabsperrung und verschwand genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war. Während sich zwei Polizisten an die Verfolgung machten, sah Montalbano den Kleinen mit dem Instinkt eines gejagten Tieres auf den am schlechtesten beleuchteten Abschnitt des Kais zurennen, wo die Überreste eines alten Silos standen, das aus Sicherheitsgründen mit einer Mauer umgeben war. Er kam nie dahinter, was ihn dazu brachte, »Stehen bleiben! Ich bin Commissario Montalbano! Kommt zurück! Überlasst das mir!«, zu schreien.
    Die Polizisten gehorchten.
    Jetzt hatte der Commissario das Kind aus den Augen verloren, aber die Richtung, in die es gerannt war, führte nur zu einer einzigen Stelle, zu einem geschlossenen Platz, einer Art Sackgasse zwischen der Rückwand des alten Silos und der Hafenmauer, von wo aus jeder Fluchtweg abgeschnitten war. Obendrein türmten sich auf dem Platz leere Kanister und Flaschen, Hunderte kaputter Fischkisten und mindestens zwei, drei beschädigte Motoren von Fischkuttern. Schon bei Tag konnte man sich in diesem Durcheinander kaum bewegen, und dann erst im fahlen Licht einer Straßenlaterne! Bestimmt beobachtete ihn der Junge, und Montalbano tat, als ließe er sich viel Zeit, er ging langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, und steckte sich sogar eine Zigarette an. Am Anfang der schmalen Gasse blieb er stehen und sagte mit leiser, ruhiger Stimme in breitem Sizilianisch:
    »Veni ccà, picciliddru, nenti ti fazzu - komm her, Kleiner, ich tu dir nichts.«
    Keine Antwort. Doch als er die Ohren spitzte, hörte er durch den Lärm hindurch, der wie eine Brandung aus Geschrei, Weinen, Klagen, Fluchen, Gehupe, Sirenengeheul und Reifengequietsche vom Kai zu ihm drang, deutlich das leise, ängstliche Keuchen des Jungen, der ganz in der Nähe versteckt sein musste.
    »Jetzt komm schon, ich tu dir nichts.«
    Er hörte ein Rascheln. Es kam aus einer Holzkiste direkt vor ihm. Der Kleine hatte sich dahinter zusammengekauert.
    Montalbano hätte ihn mit einem Satz packen können, doch er blieb lieber unbewegt stehen. Dann kamen langsam die Hände, die Arme, der Kopf, der Oberkörper zum Vorschein.
    Der Rest blieb hinter der Kiste verborgen. Der Junge hielt zum Zeichen, dass er sich ergab, die Hände hoch, seine Augen waren schreckgeweitet, aber er versuchte krampfhaft, nicht zu weinen, keine Schwäche zu zeigen.
    Aus welchem Winkel der Hölle muss er kommen - fragte sich Montalbano erschüttert -, wenn er in seinem Alter schon gelernt hat, die Hände hochzuheben, was er bestimmt nicht aus dem Kino oder dem Fernsehen kennt.
    Die Antwort kam prompt, denn plötzlich flammte in seinem Kopf eine Art Blitzlicht auf. Und in diesem Blitz verschwanden, solange er andauerte, die Kiste, die Gasse, der Hafen, ganz Vigàta, alles verschwand und erschien dann von neuem, zusammengesetzt zur Größe und zum Schwarzweiß einer alten Fotografie, die er viele Jahre zuvor gesehen hatte; sie stammte aus einer noch früheren Zeit, aus dem Krieg, als er noch gar nicht geboren war, und zeigte einen jüdischen oder polnischen Jungen, der auch die Hände erhoben und auch diese großen Augen hatte und um keinen Preis weinen wollte, während ein Soldat ein Gewehr auf ihn gerichtet hielt.
    Der Commissario spürte einen heftigen Stich in der Brust, einen Schmerz, der

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