Commissario Montalbano 07 - Das kalte Lächeln des Meeres
ihm den Atem nahm, und er schloss erschrocken die Augen und öffnete sie wieder. Da kehrte alles zu seinen normalen Maßen, zum wirklichen Licht zurück, und das Kind war kein jüdisches oder polnisches, sondern ein schwarzes Kind. Montalbano trat einen Schritt vor, nahm die eisigen Hände und hielt sie fest in den seinen. So verharrte er und wartete, dass sich ein wenig von seiner Warme auf diese kleinen Finger übertrug. Erst als er spürte, dass sich der Junge allmählich entspannte, tat er mit ihm an der Hand den ersten Schritt. Der Kleine vertraute sich ihm willig an und ging mit. Ohne Vorwarnung fiel Montalbano Francois ein, der kleine Tunesier, der, wie Livia sich gewünscht hatte, sein Sohn hätte werden können. Er bezwang die Rührung rechtzeitig, biss sich dabei allerdings die Unterlippe fast blutig. Die Leute gingen weiter von Bord.
Auf die Entfernung sah er eine ziemlich junge Frau, die wie ein Klageweib jammerte, mit zwei kleinen Kindern, die ihr am Rockschoß hingen; sie schrie unverständliches Zeug, raufte sich die Haare, stampfte mit den Füßen und zerrte an ihrer Bluse. Drei Beamte versuchten vergeblich, sie zu beruhigen. Als die Frau den Commissario und den Jungen sah, war kein Halten mehr, sie stieß die Polizisten mit aller Kraft beiseite und stürzte mit ausgebreiteten Armen auf die beiden zu. Da geschah zweierlei. Erstens merkte Montalbano deutlich, dass der Junge beim Anblick der Mutter erstarrte und wieder zur Flucht ansetzte. Warum tat er das, anstatt ihr entgegenzulaufen? Montalbano sah ihn an und stellte erstaunt fest, dass der Kleine ihn anblickte, nicht die Mutter, und in seinen Augen eine verzweifelte Bitte lag. Die Mutter würde ihn bestimmt verhauen, weil er entwischt war, und vielleicht wollte er deshalb Reißaus nehmen. Zweitens stolperte die Frau und fiel hin. Die Beamten wollten ihr aufhelfen, aber es gelang ihnen nicht, sie konnte nicht stehen und fasste sich jammernd ans linke Knie. Dabei gab sie dem Commissario Zeichen, ihren Sohn zu ihr zu bringen. Als der Kleine vor ihr stand, umarmte sie ihn und bedeckte ihn mit Küssen. Doch sie vermochte sich nicht aufrecht zu halten. Sie strengte sich an, fiel aber wieder hin. Jemand rief nach dem Krankenwagen. Zwei Sanitäter stiegen aus, ein hagerer mit Oberlippenbart beugte sich über die Frau und berührte ihr Bein.
»Es muss gebrochen sein«, sagte er.
Sie luden die Frau mit den drei Kindern in den Krankenwagen und fuhren ab. Jetzt verließen die Leute auch das zweite Patrouillenboot, aber der Commissario wollte nach Marinella zurück. Er sah auf die Uhr: fast zehn, da brauchte er nicht mehr zu Ciccio Albanese zu fahren. Adieu, Streifenbarben. Um diese Uhrzeit warteten sie nicht mehr auf ihn. Außerdem musste er sich eingestehen, dass sein Magen wie zugeschnürt war, der Appetit war ihm vollkommen vergangen.
In Marinella rief er gleich Ciccio an. Der sagte, sie hätten lange gewartet, aber dann gedacht, dass er wohl nicht mehr käme.
»Geben Sie Bescheid, wenn Sie mich noch mal wegen der Strömung brauchen.«
»Danke, Ciccio.«
»Ich muss morgen nicht rausfahren, wenn Sie wollen, kann ich am Vormittag ins Kommissariat kommen. Ich bring meine Unterlagen mit.«
»Einverstanden.«
Er duschte lange, um die Szenen von sich abzuwaschen, die er gesehen hatte und die ihm, zu unsichtbaren Splittern geschrumpft, in die Poren gedrungen waren. Dann zog er die erstbeste Hose an, die er zwischen die Finger bekam, und ging ins Wohnzimmer, um mit Livia zu telefonieren. Als er die Hand nach dem Hörer ausstreckte, läutete das Telefon. Er zuckte zurück, als hätte er in eine Flamme gelangt. Natürlich war das eine instinktive und unkontrollierte Bewegung, aber sie bewies, dass die Gedanken an das, was er am Hafenkai gesehen hatte, trotz Dusche noch in ihm rumorten und ihn bedrückten.
»Ciao, Liebling. Geht's dir besser?«
Mit einem Mal wünschte er, er hätte Livia bei sich und könnte sie in den Arm nehmen und sich von ihr trösten lassen. Aber da er nun mal war, wie er war, antwortete er nur:
»Ja.«
»Ist die Erkältung vorbei?«
»Ja.«
»Ganz?«
Er hätte merken müssen, dass Livia ihm eine Falle stellte, aber er war zu unruhig und in Gedanken woanders.
»Ganz.«
»Dann hat Ingrid dich ja gut gepflegt. Was hat sie denn gemacht? Hat sie dich ins Bett gebracht? Hat sie dir die Decke zurückgeschlagen? Ein Schlaflied gesungen?«
Wie ein Idiot war er auf sie reingefallen! Da gab es nur eins: Gegenangriff.
»Jetzt hör mal zu,
Weitere Kostenlose Bücher