Commissario Montalbano 08 - Die Passion des stillen Rächers
Nicolò wartete am Eingang, und als er Montalbanos Auto kommen sah, lief er ihm entgegen. Er war ganz aufgeregt.
»Was ist denn los?«
»Kurz nachdem die Sekretärin heute Morgen das Büro betrat, ging ein anonymer Anruf ein. Eine Männerstimme fragte, ob wir die Möglichkeit hätten, einen Anruf aufzuzeichnen, sie bejahte, und da sagte der Mann, sie sollte alles vorbereiten, er würde in fünf Minuten noch mal anrufen. Das hat er dann auch getan.«
Sie gingen in Nicolòs Büro. Auf dem Tisch stand ein Profi-Aufnahmegerät. Zito schaltete es an. Montalbano horte, wie vermutet, die gleichen Sätze wie bei Mistretta, kein Wort mehr, keines weniger.
»Schrecklich. Das arme Mädchen …«, meinte Zito.
Dann fragte er:
»Haben die auch bei den Mistrettas angerufen? Oder sollen wir für diese Schweine Vermittler spielen?«
»Sie haben gestern am späten Abend angerufen.«
Zito seufzte erleichtert.
»Gott sei Dank. Aber warum haben wir den Anruf dann auch bekommen?«
»Ich glaube, ich weiß warum«, sagte Montalbano. »Die Entführer wollen alle – nicht nur den Vater – wissen lassen, dass Susanna in ihrer Gewalt ist. Normalerweise liegt einem Entführer viel dran, dass die Sache diskret über die Bühne geht. Aber sie setzen alle Hebel in Bewegung, um Aufsehen zu erregen. Sie wollen, dass Susannas flehende Stimme bei den Leuten Eindruck macht.«
»Aber warum?«
»Da liegt der Hund begraben.«
»Was soll ich denn jetzt machen?«
»Wenn du ihr Spiel mitspielen willst, dann sende den Anruf.«
»Ich mache mich doch nicht zum Handlanger von Verbrechern.«
»Bravo! Ich werde mich darum kümmern, dass diese edlen Worte in deinen Grabstein gemeißelt werden.«
»Mensch, bist du blöd!«, sagte Zito und griff sich abergläubisch an die Eier.
»Du bezeichnest dich doch als seriösen Journalisten, also informier den Staatsanwalt und den Polizeipräsidenten und stell ihnen die Aufnahme zur Verfügung.«
»Gut.«
»Ich rate dir, das sofort zu tun.«
»Warum hast du es plötzlich so eilig?«, fragte Zito und wählte die Nummer des Präsidiums.
Montalbano antwortete nicht.
»Ich warte draußen«, sagte er und ging.
Es war wirklich ein lieblicher Morgen, ein sanftes Lüftchen wehte. Der Commissario steckte sich eine Zigarette an und hatte noch nicht fertig geraucht, als Zito kam.
»Erledigt.«
»Was haben sie gesagt?«
»Dass ich es nicht senden soll. Sie schicken einen Beamten, der die Kassette abholt.«
»Gehen wir wieder rein?«, fragte der Commissario.
»Willst du mir Gesellschaft leisten?«
»Nein. Ich will etwas sehen.«
Im Büro bat Montalbano Nicolò, den Fernseher auf »Televigàta« einzustellen.
»Was willst du bei diesen Idioten denn hören?«
»Warte, du wirst gleich verstehen, warum du sofort beim Questore anrufen solltest.«
Auf dem Bildschirm stand:
»In wenigen Minuten senden wir eine Sonderausgabe der Nachrichten.«
»Scheiße!«, sagte Nicolò. »Bei denen haben sie auch angerufen! Und diese Ärsche senden es!«
»Hast du was anderes erwartet?«
»Nein. Und du bist schuld, dass mir ein Knüller durch die Lappen geht!«
»Überlegst du’s dir anders? Entscheide dich, bist du ein seriöser Journalist oder nicht?«
»Natürlich bin ich das, aber es ist schon bitter, eine solche Meldung aus freien Stücken zu streichen!«
Die Ankündigung auf dem Bildschirm verschwand, die Erkennungsmelodie der Nachrichten ertönte, und dann erschien ohne jede Einleitung Mistrettas Gesicht. Es war eine Wiederholung des Appells, den er bereits am Tag nach der Entführung an die Täter gerichtet hatte. Anschließend erschien ein Journalist.
»Wir haben den Appell von Susannas Vater aus einem bestimmten Grund ein zweites Mal gesendet. Hören Sie dazu jetzt ein dramatisches Tondokument, das heute Morgen in unserer Redaktion eingegangen ist.«
Zu den Aufnahmen der Villa hörte man den Wortlaut des Anrufs, der auch bei »Retelibera« eingegangen war. Dann schwenkte die Kamera auf Pippo Ragoneses Hühnerarschgesicht.
»Die Redaktion hat sich nach langem Zögern dazu entschlossen, den Anruf, den Sie soeben gehört haben, tatsächlich zu senden. Susanna Mistrettas verängstigte und beängstigende Stimme ist für uns als Mitglieder einer zivilisierten Gesellschaft nur schwer zu ertragen. Doch das Recht auf Information hat Vorrang. Die Öffentlichkeit hat ein heiliges Recht auf Information, und wir Journalisten haben die heilige Pflicht, dieses Recht zu achten. Sonst dürften wir uns nicht mehr stolz
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