Commissario Montalbano 13 - Das Ritual der Rache
weg. Da habe ich mir gedacht, ich bringe Ihnen den Brief trotzdem, auch ohne Unterschrift.«
Er griff mit einer Hand in die Tasche, zog ein Blatt Papier hervor und legte es neben den Umschlag.
»Das ist das Original.«
»In Ordnung, du kannst gehen.«
Sechs
In dem Brief stand:
Lieber Salvo, wie ich dir schon mündlich mitgeteilt habe, muss die Situation, die zwischen uns beiden entstanden ist, von Grund auf geklärt werden, und zwar rückhaltlos und ohne zu fackeln. Ich glaube, dass nach so vielen Jahren der Zusammenarbeit, bei der ich auf deinen Wunsch allerdings immer eine untergeordnete Rolle gespielt habe, der Augenblick für mich gekommen ist, mir mehr Raum zu schaffen. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die Ermittlung im Zusammenhang mit der zerstückelten und noch nicht identifizierten Leiche für uns beide eine Art Nagelprobe sein kann. Mit anderen Worten: Ich will, dass der Fall mir übertragen wird und du dich in jeder Hinsicht heraushältst. Natürlich bin ich verpflichtet, dich über alles auf dem Laufenden zu halten, aber du darfst dich in keiner Weise einmischen. Ich bin auch bereit, dir nach Abschluss der Ermittlung vor der Öffentlichkeit das gesamte Verdienst zuzusprechen.
Ich will dir damit nicht vorschreiben, was du zu tun hast, versteh mich da richtig. Vielmehr ist es ein Beweis für deine Wertschätzung mir gegenüber, um den ich dich bitte. Eine Hilfe. Und natürlich ist es eine wenn auch schwierige Demonstration meiner Fähigkeiten.
Für den Fall, dass du meine Meinung nicht teilst, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Polizeipräsidenten zu bitten, sich um meine Versetzung an einen anderen Ort zu kümmern.
Wie deine Entscheidung auch ausfällt, meine tiefe Zuneigung und meine hohe Meinung von dir werden davon niemals in irgendeiner Weise beeinflusst werden. Ich umarme dich.
Eine Unterschrift stand nicht darunter, das hatte Galluzzo ja bereits gesagt. Aber es war zu spät geworden, um darüber nachzudenken.
Er steckte den Brief in die Tasche, wischte sich die Augen (Ach, diese Alterserscheinungen! Wie leicht man sich doch rühren lässt!), stand auf und verließ das Kommissariat.
In der Café-Bar von Marinella traf er Ingrid, die schon an einem Tisch saß und den ersten Whisky getrunken hatte. Die fünf oder sechs männlichen Gäste wandten keinen Blick von ihr. Wie kam es nur, dass diese Frau von Jahr zu Jahr schöner wurde? Schön, elegant, intelligent, diskret. Eine wahre Freundin: Kein einziges Mal, wenn er sie bei einer Ermittlung um ihre Mithilfe gebeten hatte, hatte sie irgendetwas gefragt, kein Wieso und kein Weshalb. Sie tat, worum man sie gebeten hatte, und Schluss.
Sie umarmten sich und waren glücklich, einander wiederzusehen.
»Brechen wir gleich auf oder lassen wir uns noch einen Whisky bringen?«, fragte Ingrid.
»Ich habe keine Eile«, antwortete Montalbano und setzte sich.
Ingrid nahm eine Hand des Commissario und hielt sie fest zwischen ihren Händen. Ein weiterer schöner Charakterzug von ihr: Sie zeigte offen ihre Gefühle, ohne sich im Geringsten darum zu scheren, was andere darüber denken mochten.
»Wie bist du hergekommen? Ich habe deinen Wagen gar nicht auf dem Parkplatz gesehen.«
»Den roten Sportwagen meinst du? Den habe ich nicht mehr. Jetzt habe ich einen stinknormalen Micra, in Grün. Wie geht’s Livia?«
»Der geht’s gut, ich habe gestern noch mit ihr gesprochen. Und deinem Mann?«
»Ich glaube, dem geht’s auch gut, ich habe ihn eine Woche nicht gesehen. Wir wohnen zwar unter einem Dach, leben aber getrennt, wenn auch nicht offiziell. Das Haus ist ja zum Glück sehr groß. Und seit er Abgeordneter ist, hält er sich sowieso die meiste Zeit in Rom auf.«
Ingrids Mann war als Müßiggänger bekannt, daher war es nur logisch, dass er in die Politik gegangen war. Montalbano musste an einen dieser Allerweltssätze denken, den er als kleiner Junge einmal von seinem Onkel gehört hatte: »Wer sonst nichts kann, ist mit der Politik gut dran.«
»Reden wir jetzt gleich darüber oder nach dem Essen?«, fragte Ingrid.
»Worüber?«
»Salvo, mir kannst du nichts vormachen. Du rufst mich nur an, wenn du irgendetwas von mir willst. Stimmt’s?«
»Stimmt. Tut mir leid.«
»Das braucht dir nicht leid zu tun. So bist du eben. Und unter anderem deshalb mag ich dich doch. Also, willst du’s mir jetzt gleich erzählen oder nicht?«
»Du weißt, dass Mimì verheiratet ist?«
Ingrid fing an zu lachen.
»Klar. Mit Beba. Und ich weiß
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