Commissario Montalbano 13 - Das Ritual der Rache
dass sie näher kam, er war überzeugt, sie würde noch schlafen. Er sah sie nicht an, er schämte sich, schämte sich, dass er in diesem Augenblick der Schwäche überrascht wurde, der er keinen Einhalt zu gebieten vermochte.
Da knipste Ingrid das Licht aus.
Und es war, als hätte sie gleichzeitig das Meer ausgeknipst, das eben noch eine fahle, nahezu phosphoreszierende Helle herübergeschickt hatte, und die fernen, verstreuten Lichter der Sterne.
Auf einem unsichtbaren Boot rief ein Mann:
»Giuvà! Giuvà!«
Doch niemand antwortete ihm.
Absurderweise war diese ausbleibende Antwort der letzte herzzerreißende Stoß in Montalbanos Brust. Er begann, rückhaltlos zu weinen.
Ingrid kam zu ihm auf die Bank, umarmte ihn fest und setzte sich so, dass Montalbano seinen Kopf an ihre Schulter lehnen konnte.
Dann hob sie mit der linken Hand sein Kinn und küsste ihn lange auf den Mund.
Es war sechs Uhr, als er Ingrid zu ihrem Wagen an der Café-Bar von Marinella begleitete.
Ihm war nicht nach schlafen zumute. Vielmehr empfand er das tiefe Bedürfnis nach Reinigung. Er wollte so lange duschen, bis das ganze Wasser der Tanks aufgebraucht war. Daher fuhr er nach Hause, zog sich aus, schlüpfte in die Badehose und stieg die Verandastufen zum Strand hinunter.
Es war kalt, die Sonne ging noch lange nicht auf, ein leichter Wind aus Milliarden stählerner Klingen wehte.
Wie beinahe jeden Morgen war Cosimo Lauricella damit beschäftigt, sein Ruderboot ins Wasser zu lassen, das er am Vorabend ans Ufer gezogen hatte. Er war ein alter Fischer, der Montalbano hin und wieder frisch gefangenen Fisch brachte und dafür nie eine Bezahlung annehmen wollte.
»Dutturi, heut Morgen wird’s nichts.«
»Ich wollte nur eben ein Bad nehmen, Cosimo.«
Er stieg ins Wasser, leistete der augenblicklichen Lähmung, die ihn ergriff, Widerstand, warf sich ins Wasser und begann mit ein paar Armbewegungen. Da kehrte unversehens das absolute Dunkel der Nacht zurück.
Wie ist das möglich?, hatte er gerade noch Zeit zu denken.
Und er spürte, wie ihm das Meerwasser in den Mund drang.
Er wachte in Cosimos Boot auf, als der Fischer ihm ein paar Ohrfeigen gab.
»Verdammt, Dutturi, haben Sie mich erschreckt! Ich hab doch gesagt, heut Morgen wird’s nichts! Ein Glück, dass ich da war, sonst wären Sie ertrunken!«
Als sie an Land waren, ließ Cosimo sich nicht davon abbringen, ihn bis ins Haus zu begleiten.
»Dutturi, ich empfehle Ihnen dringend, solche Streiche in Zukunft bleibenzulassen. Solange man jung ist, geht es ja noch, aber danach ändert sich alles.«
Danke, Cosimo, dachte er, weniger dafür, dass du mir das Leben gerettet hast, als dafür, dass du mich nicht ›alt‹ genannt hast.
Nenn es, wie du willst, ein Kürbis bleibt doch immer ein Kürbis, sagt das Sprichwort.
Reif, betagt, von einem gewissen Alter, nicht mehr ganz jung, in vorgerückten Jahren: alles Arten, die Sache freundlich zu umschreiben, ohne am Kern dieser Sache etwas zu ändern, nämlich, dass er unwiderruflich alt wurde.
Er ging in die Küche, setzte die Espressomaschine für sechs Tassen aufs Feuer und trank den kochend heißen Kaffee aus einer großen Tasse.
Danach stellte er sich unter die Dusche und verbrauchte das gesamte Wasser. Dabei stellte er sich Adelinas Flüche vor, weil sie nun das Haus nicht sauber machen, die Fußböden nicht aufwischen, vielleicht sogar nicht einmal kochen könnte.
Am Ende fühlte er sich ein bisschen reiner.
»Ah, Dottori, Dottori! Gerade eben vor kurzem hat Dottori Arcà nach Ihnen gefragt, der mir sagte, ich soll Ihnen sagen, dass Sie ihn in der Spurensicherung anrufen sollen.«
»In Ordnung, ich sag dir dann Bescheid, wenn du ihn anrufen sollst.«
Zuerst musste er etwas erledigen, das dringender war.
Er ging in sein Büro, schloss die Tür ab, setzte sich an den Schreibtisch, zog Mimìs Brief aus der Tasche und las ihn noch einmal.
Am Abend zuvor, als er auf der Veranda saß und über Mimìs Worte nachdachte, waren ihm zwei Dinge aufgefallen. Das eine war der Ton, das andere …
Das andere war ihm entfallen, weil Ingrid aufgewacht war. Und nicht einmal jetzt fiel es ihm wieder ein, so sehr er sich auch bemühte.
Er nahm einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier ohne Briefkopf, dachte einen Augenblick nach und fing dann an zu schreiben.
Sieben
Lieber Mimì,
ich habe deinen Brief sehr aufmerksam gelesen.
Angesichts deines Verhaltens in den letzten Wochen hat er mich nicht überrascht.
Zum Teil verstehe ich auch
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