Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
Gesichter und Szenen zu erkennen glaubte, die in den letzten Stunden vor ihren Augen vorbeigezogen waren. Einige Eindrücke waren ihr messerscharf, wie überbelichtet, in Erinnerung geblieben. Im Gehen sah Lissie noch immer die drei Freunde vor sich, wie sie posierten und sich gegenseitig feixend die Arme um die Schultern legten. Eigentlich kein tolles Foto. Ein Schnappschuss halt. Wäre da nicht der junge Mann in der Mitte gewesen, zweifellos der Anführer der drei, hätte Lissie das Foto sicher nicht länger als eine Sekunde angeschaut.
Der hoch aufgeschossene Kerl in der Mitte war Emil Felderer. Zur Zeit der Aufnahme war er bestimmt zehn Jahre jünger als auf dem Foto in der Kegelbahn gewesen. Eine Bildunterzeile hatte das Foto nicht, Lissie hatte es in einem Sammelsurium von Fotos entdeckt, in einer Sonderausgabe der »Dolomiten« zur Eröffnung der Meraner Rennwochen. Nur durch Zufall, und weil sich Lissie für Pferde interessierte, hatte sie die Sonderausgabe überhaupt durchgeblättert.
Lissie rief sich das Datum der Zeitungsseite noch einmal in Erinnerung. Die Ausgabe stammte vom 12. September 1962. War das wichtig? Sie wusste es nicht. Wie herausfordernd Emil Felderer damals in die Kamera geblickt hatte! Sein wissender Blick drückte Überlegenheit aus, schien mit dem Betrachter zu spielen. Lissie betrachtete die beiden Kameraden Felderes. Auf einmal hatte sie das Gefühl, den einen, ein auffallend gut aussehender junger Mann, schon einmal gesehen zu haben. Aber das konnte natürlich nicht sein.
Eine andere Aufnahme, die sie beeindruckt hatte, stellte vier Personen dar, die auf einem Dachboden auf Heuballen saßen und in die Kamera grinsten: Vater, Mutter und zwei kleine Jungen. Das Foto war während einer Stippvisite des flüchtigen Vaters bei seiner Familie aufgenommen und ein paar Wochen später bei einer Hausdurchsuchung entdeckt worden. Solche Besuche waren der Irrsinn gewesen, doch einige der Männer hatten wohl nicht anders gekonnt.
Als das Foto von den Carabinieri gefunden wurde, praktischerweise mit der Datumsangabe auf der Rückseite, wussten die Behörden natürlich, dass die Ehefrau gelogen hatte, als sie beteuerte, den Aufenthaltsort ihres Mannes nicht zu kennen. Bei der anschließenden scharfen Vernehmung durch die italienische Polizei hatte sich der kleine Junge dann verplappert. Wie es im Zeitungsbericht hieß, hatten die Ermittler ihm Angst eingejagt, man würde seinem Vater etwas tun, wenn er nicht die Wahrheit über dessen Aufenthaltsort sagte. Das tat der Kleine in seiner Not dann auch, voller Angst und heftig weinend.
»Carabinieri machen unschuldige Kinder zu ihren Spitzeln!«, hatte die Überschrift des Artikels gelautet. Lissie wurde das Herz schwer, als sie an das Trauma dachte, das der kleine Junge zweifellos davongetragen hatte. Sie fragte sich, ob er wohl irgendwann mit seinen Schuldgefühlen fertig geworden war.
Einige Schnappschüsse von Verhaftungen hatten ebenfalls ihren Weg in die Zeitung gefunden. Lissie war sicher, dass die italienischen Behörden ziemlich scharf darauf gewesen sein mussten, solche Fotos zu verhindern, damit sich die Bevölkerung nicht angesichts der abgelichteten Verzweiflung mit der Familie solidarisierte. Anscheinend hatte es aber immer wieder Augenzeugen gegeben, die im richtigen Augenblick auf den Auslöser drückten.
Eine Gruppenaufnahme war leicht verwackelt, als ob jemand dem Apparat einen Schubs versetzt hätte. Die Aufnahme zeigte einen Mann, der von zwei anderen in ein Auto gezerrt wurde. An seinem Bein hing ein kleines Mädchen, bestimmt nicht älter als drei oder vier Jahre. Verzweifelt klammerte es sich an das Hosenbein des Mannes. Es war ein groteskes Foto, ein Kind, das sich mit seinem ganzen Körper zwei Carabinieri entgegenstemmt.
Neben die Aufnahme hatten die »Dolomiten« eine grobkörnige Vergrößerung des Kindergesichts abgedruckt. Obwohl man nicht viel erkennen konnte, war das Foto gruselig. Ein helles Oval mit schulterlangen Haaren, die wirr vom Kopf abstanden, als ob sie elektrisch aufgeladen wären. Lissie hatte noch nie zuvor jemanden gesehen, auf den die Beschreibung, die Haare stünden zu Berge, dermaßen zutraf wie auf dieses Kind. Aber das Schlimmste war der weit geöffnete Mund, der ein dunkles Loch bildete und eigentlich viel zu groß für den kleinen Kinderkopf war. Lissie musste an Edvard Munchs Bild »Der Schrei« denken, in dem der Maler die totale Verzweiflung eines Menschen auf die Leinwand gebannt hatte. Die
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