Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
Mann mit hellem, wirrem Haarschopf zu sehen, der kurze Hosen und ein kariertes Hemd trug. Es handelte sich um eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Der Junge – er war sicher nicht viel älter als Anfang zwanzig – stand vor einem Gipfelkreuz, breitbeinig, wohl um besseren Stand zu haben. Sein Gesicht war halb von seinem rechten Arm verdeckt. Der Fotograf hatte ihn gerade in dem Moment eingefangen, in dem er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen wollte. Aber sein Grinsen war deutlich zu sehen.
Auch die zweite Aufnahme war ein Schnappschuss und stellte zwei Personen dar. Derselbe junge Mann wie auf dem ersten Foto, jetzt aber im Sonntagsstaat. Diesmal war sein Gesicht gut zu erkennen. Auch hier grinste er breit. Er zog eine in Tracht gekleidete junge Frau besitzergreifend an sich heran. Das Mädchen wehrte sich lachend. Im Hintergrund waren schemenhaft ein paar andere Leute zu sehen, die in Grüppchen herumstanden. Wahrscheinlich auf dem Kirchhof, vor oder nach der Sonntagsmesse, dachte Pavarotti. Die junge Frau war nicht klassisch schön, aber ausnehmend attraktiv gewesen. So lebendig. Ein bisschen wie Frieda Kahlo, kam es Pavarotti in den Sinn. Er schaute prüfend zu seiner Gastgeberin hinüber. Sie war eindeutig das Mädchen auf dem Foto. Ihre auch heute noch schwarzen, bis zur Nasenwurzel reichenden Augenbrauen verrieten sie. Doch das Funkeln in ihren Augen, das er auf dem alten Foto deutlich erkennen konnte, war inzwischen erloschen. Pavarotti glaubte nicht, dass das nur mit ihrem hohen Alter zu tun hatte.
Er sah, wie die Loipfertingerin eine der Aufnahmen betastete. Pavarottis Befürchtung, Lissie und er würden völlig grundlos alte Wunden wieder aufreißen, schwand. Wie es aussah, hatte die Frau die beiden Aufnahmen, und vermutlich noch andere, schon oft hervorgeholt.
»Lustig war er immer, der Luis. Das hat mir an ihm damals am meisten gefallen.« Sie schaute kurz hoch. »Luis, das war mein Mann.« Die alte Frau zeigte auf eins der Fotos. »Und das bin ich mit ihm, ein paar Wochen nach unserer Hochzeit. Ich weiß noch, dass ich nie allein neben ihm herlaufen durft. Immer hat er mich um die Schultern oder um die Taille gefasst und wollt mich nimmer loslassen.« Sie schaute auf das Foto und dann schnell weg. »Das war kurz, bevor es passiert ist. Das ist das letzte Foto, das ich von ihm hab.«
Dann atmete sie tief aus. »Der Emil Felderer hat ihn auf dem Gewissen.« Ohne Humor in der Stimme lachte sie kurz auf. »Wenn der überhaupt so was hat, ein Gewissen. Ich glaub’s aber nicht.«
Pavarotti blickte die alte Frau scharf an. War ihr klar, was sie da andeutete? Vielleicht suchte sie bloß einen Schuldigen, damit der Schmerz sich leichter ertragen ließ.
»Frau Loipfertinger, das ist eine schwere Anschuldigung. Haben Sie denn Beweise dafür?«
Lissie stieß ihn kräftig in die Seite. »Luciano, hör dir die Geschichte doch erst einmal an, bevor du Fragen stellst!«
Pavarotti nickte. Lissie hatte recht. Es hatte keinen Sinn, die alte Frau in die Zange zu nehmen. »Bitte entschuldigen Sie, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir vom Tod Ihres Mannes erzählen würden«, sagte er beruhigend zu der Bäuerin, deren Blick wieder wie am Anfang zwischen ihren beiden Gästen hin und her irrte.
»Der Luis ist am 31. Oktober 1967 oben am Eisjöchl erschossen worden, von der italienischen Polizei«, sagte sie dann, und blickte auf ihre runzligen Hände herunter. »Bei der Stettiner Hütte war das. Er hatte sich da oben versteckt, wissen Sie. Nach den Anschlägen auf die italienischen Strommasten hatten die ihn schon wochenlang im Visier. Er wurde steckbrieflich gesucht.« Bei dem Wort »steckbrieflich« betonte sie jede Silbe einzeln. Ihre Stimme klang beinahe stolz, als sie es sagte.
»Den Rat, sich oben auf der verlassenen Stettiner Hütte zu ducken, bis Gras über die Sache gewachsen ist, den hat ihm sein bester Freund gegeben. Emil Felderer.« Die Loipfertingerin spuckte den Namen heraus und wischte sich anschließend mit einem getüpfelten Taschentuch über den Mund. »Die Hütte liegt sehr hoch und hat keine Heizung. Um die Zeit ist da oben schon Tiefschnee, und der Aufstieg ist ziemlich gefährlich. Deswegen hat dem Luis der Plan gefallen. Er hat gemeint, dass die Carabinieri um diese Jahreszeit nicht mehr aufsteigen würden, weil sie dort oben eh niemanden vermuteten.«
Als die alte Frau weitersprach, blickte sie wieder auf die Fotos, oder vielmehr durch sie hindurch. Hinter den Vierecken voller
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