Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
Dellen und Knicke schienen die Ereignisse von damals wieder lebendig zu werden.
»Am letzten Oktobertag bin ich wie alle paar Tage aus dem Pfossental hinauf, um dem Luis zu essen zu bringen. Ich war wie immer vorsichtig, als ich das Radl am Talschluss in einer verfallenen Hütte versteckt hab, und hab mich umgeschaut, ob mir jemand gefolgt ist. Grad so, wie’s mir der Emil eingeschärft hat. Dabei hat der falsche Hund genau gewusst, dass die mich gar nicht auszuspionieren brauchten, um den Luis zu erwischen«, setzte sie hinzu. Pavarotti wunderte sich, wie sachlich die alte Frau jetzt erzählte, ohne Trauer und Bitterkeit in der Stimme.
Frau Loipfertinger drehte den Kopf in Richtung Küchenfenster und wies mit ihrem Kinn auf den blauen Himmel draußen. »Es war grad so ein schöner Nachmittag wie heut. Ich weiß noch, wie der Schnee geglitzert hat, als ich fast oben war …« Ihre Stimme verlor sich, und ihre Erzählung versickerte in der Fülle der aufsteigenden Erinnerungen. Weder Lissie noch Pavarotti brachten es über sich, sie zum Weiterreden aufzufordern. Das tat sie dann von sich aus, ein paar Minuten später.
»Ich hab am Anfang nicht begriffen, was los ist. Den Schuss hab ich gar nicht richtig mitgekriegt. Es hat zwar laut geknallt, und ich hör das Echo von den Bergen heut noch. Aber damals, da hab ich irgendwie nicht drauf geachtet.« Sie schüttelte den Kopf, als sei ihr ihre Reaktion von damals auch nach so langer Zeit noch ein Rätsel. »Ich hab bloß den Luis gesehen, und ich dachte, er will mir entgegenspringen. Als er gefallen ist, hab ich gemeint, er ist gestolpert. Erst als ich bei ihm war, hab ich gesehen, dass ihm Blut aus dem Mund kommt. Ich hab mich zu ihm hingekniet und ihn geschüttelt, aber da war er schon tot. Zum Abschied hat er nichts mehr sagen können. Aber er hat gelächelt, so wie immer.«
Wieder hielt die alte Frau einen kurzen Moment inne, bevor sie mit erstaunlich nüchterner Stimme den Faden aufnahm.
»Und dann kamen sie, die Carabinieri, und haben mich von ihm weggezerrt. Ich erinnere mich, dass ich wie am Spieß ›Mörder, Mörder‹ geschrien hab. Ich soll bloß ruhig sein und schauen, dass ich wegkomm, sonst werd ich noch wegen Beihilfe angezeigt, hat der Anführer von denen gesagt.«
Obgleich ihre Stimme mittlerweile so leise geworden war, dass Lissie und Pavarotti sie nur mit Mühe verstehen konnten, hörten sie den Zorn durch.
»›Auf der Flucht erschossen‹, hieß es dann offiziell«, flüsterte die Bäuerin. »Der Luis ist hinten zum Küchenfenster der Hütte hinaus und ist auf ihren Zuruf hin nicht stehen geblieben. Er hat halt geglaubt, er ist geschwind genug und kann übers Eisjöchl zum Pfossental runtersausen.« Sie seufzte. »So war er immer. Nichts hat er ernst nehmen können, alles war eine Gaudi für ihn.«
Nach einer Pause hakte Pavarotti ein. »Frau Loipfertinger, warum denken Sie, dass Emil Felderer es war, der ihn ausgeliefert hat?«
Die alte Frau zuckte die Schultern. »Muss ja so sein. Nur ich und der Emil, sein bester Freund, haben gewusst, wo er sich versteckt hat.«
Der Commissario nickte, ohne wirklich überzeugt zu sein. Er dachte, dass der Luis seiner Frau vielleicht nicht alles gesagt hatte. Oder sie hatte sich bei irgendwem verplappert und das einfach verdrängt. Emil Felderer war ein guter Sündenbock.
Die Loipfertingerin unterbrach ihn in seinen Gedanken. »Der Luis war übrigens nicht sein einziges Opfer aus Meran. Er hat noch einen verraten, kurz danach. Der ist dann im Gefängnis an der Folter eingegangen, hab ich gehört.«
Pavarotti schaute interessiert hoch. »Wer war der andere?«
Aber die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht hab ich es damals gar nicht mitbekommen, oder einfach vergessen. Wissen S’, nach Luis’ Tod hat mich nichts mehr interessiert. Ich hab nicht gemerkt, was um mich herum passiert ist. Alles außer diesem einen Tag war wie vom Nebel verschluckt.«
Lissie setzte sich neben die alte Frau und nahm wortlos ihre Hand. Pavarotti war ihr dankbar für diese Geste, die er nie und nimmer fertiggebracht hätte.
Die Loipfertingerin strich sorgsam ein paar graue Haarsträhnen, die sich aus ihrem Zopf befreit hatten, wieder zurück auf ihren Platz. »Wir waren erst ein paar Wochen verheiratet, als es passiert ist«, sagte sie. »Nach Luis’ Tod hab ich gemerkt, dass ich schwanger bin. Leider ist es aber gleich danach abgegangen. Vielleicht war es auch besser so. Ich hätt mich
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