Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
Zeit einen fauligen Geschmack im Mund. Höchste Eisenbahn, dass sie sich die Zähne putzte. Aber vorher musste sie irgendwo Zahnpasta auftreiben. Und zum Lesen hatte sie auch nichts. Wie auch, ihr Aufenthalt hier war ja nicht geplant gewesen. Lissie wurde plötzlich klar, wie knapp sie davongekommen war. Dann grinste sie. Sie war eben nicht totzukriegen, sieben Leben, wie eine Katze. Wie viele davon hatte sie eigentlich noch? Dann schob sie den unerwünschten Gedanken von sich. Mal sehen, was der Shop im Erdgeschoss zu bieten hatte. Zuvorkommenderweise hatte ihr die redselige Schwester, die das Frühstück gebracht hatte, erzählt, dass es so etwas hier im Haus gab.
Lissie hüllte sich in den dünnen Leinenmorgenmantel und schaute vorsichtig aus der Zimmertür in den Flur hinaus. Die Schwestern teilten gerade Mittagessen an die Patienten aus. Aber der Essenswagen war noch ganz hinten, am anderen Ende des Flurs. Bis Lissies Essen kam, würde sie längst wieder zurück sein. Von den Ärzten war jetzt bestimmt nichts zu befürchten. Die saßen wahrscheinlich alle in der Krankenhauskantine und stopften Wiener Schnitzel oder Speckknödel in sich hinein.
So schnell sie trotz der Schmerzen im Fuß konnte, humpelte sie in den Aufzug und fuhr ins Erdgeschoss. Sie sah, dass der Shop über Mittag geöffnet hatte, Gott sei Dank. Die Bedienung saß hinter dem Tresen und las den »Corriere della Sera«. Sie schaute noch nicht einmal hoch, als Lissie im Schlafanzug an ihr vorbeimarschierte, auf die Regalständer mit den Kosmetika zu. Auch büchermäßig waren die hier gar nicht schlecht sortiert. Lissie griff sich Zahnpasta und den neuesten Martha Grimes in Englisch. Sie war fremdsprachlich ein wenig eingerostet in den letzten Wochen, da konnte ein englischer Krimi nichts schaden. Als sie sich das Buch unter den Arm klemmte, bemerkte sie auf einem Regalbrett weiter unten eine stattliche Anzahl von Comicheftchen und Jugendbüchern. Sogar richtige Klassiker waren dabei. Wie lange war es eigentlich her, dass sie »David Copperfield« gelesen hatte?
Sie starrte auf die Bücher, und plötzlich fiel ihr ein, dass Justus Hochleitner auch hier im Krankenhaus liegen musste. Sein Unfall war ja erst gestern passiert. Das war doch die Gelegenheit, an den Kleinen ranzukommen! Lissie grinste hinterhältig. Da hatte ihr unfreiwilliger Krankenhausaufenthalt am Ende doch noch sein Gutes.
Als sie die Regale durchstöberte, um dem Jungen ein Geschenk mitzubringen, stieß sie auf John Krakauers »In eisigen Höhen«. Nicht unbedingt ein Kinderbuch, schon klar. Aber der Junge war doch angehender Bergsteiger, vermutlich interessierte ihn die Besteigung des Mount Everest mehr als David Copperfield, Moby Dick oder Old Shatterhand. Justus würde es außerdem nichts schaden, ein bisschen Respekt vor den Bergen zu bekommen, die immer wieder Menschenleben kosteten. Und das galt auch für die in Südtirol, da brauchte man gar nicht in den Himalaya.
* * *
Als Lissie mit den Büchern unter dem Arm vor dem Shop stand, fiel ihr ein, dass sie sich irgendetwas ausdenken musste, um herauszukriegen, wo der Junge lag. Der Kleine war minderjährig, ohne die Zustimmung seiner Oma würde das Krankenhauspersonal ganz bestimmt nicht so einfach mit der Information herausrücken.
Langsam bewegte sich Lissie auf den großen halbrunden Empfangstresen der Klinik zu, hinter dem drei Frauen saßen. Sie entschied sich für die ganz links, eine dickliche, gutmütige Frau um die vierzig. Bestimmt eine Mutter. Vielleicht hatte sie sogar einen Jungen in Justus’ Alter.
Sie steuerte auf die Frau zu und schob im Gehen die Ärmel ihres Morgenmantels hoch, damit die Verbände besser zu sehen waren.
»Guten Tag, ich heiße von Spiegel und bin bei Ihnen Patientin auf der Unfallstation«, sagte sie freundlich. Die Frau schaute Lissie aufmerksam an und wartete. »Ich bin hier, weil es ein Unglück gegeben hat«, fuhr Lissie fort. »Ich möchte gern wissen, ob der Justus Hochleitner noch auf der Intensiv liegt und wie es ihm geht. Ich möchte ihn einfach nur sehen, um zu wissen, dass ich’s geschafft hab. Der Junge ist erst dreizehn, ich hab ihn rausgezogen, wissen Sie.« Bei diesen Worten hielt sie ihre verbundenen Arme hoch.
Bingo. Die Augen der Frau wurden groß. »Dass es Leut wie Sie gibt«, sagte sie bewundernd.
Lissie fühlte sich ganz mies, schaffte es aber, huldvoll zu lächeln. Die Frau lächelte ebenfalls und machte eine Eingabe auf ihrer Computertastatur. Sie beugte
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