Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
mehr, je länger es ihnen gestattet ist, weiterzuatmen.«
Lissies Augen zuckten über den Text. »Diese eine Frage, wie es so kurz vor dem Sterben wohl ist, rumort unablässig in meinem Kopf«, las sie. Die Buchstaben begannen zu verschwimmen, als sie versuchte, das Geschriebene zu begreifen. »Seit ein paar Monaten ist sie geradezu, nun ja, zu einer fixen Idee geworden.« Lissie schaute auf den Einband mit der Jahreszahl, um sich zu vergewissern. Der Text war über zehn Jahre alt. Ein entsetzlicher Verdacht begann in ihr zu keimen.
Lissie stand auf und fing an, im Zimmer herumzugeistern. Kein Zweifel, Karl Felderer war nicht normal gewesen. Das war offenbar durch sein gestörtes Gehirn sogar zu ihm selbst durchgedrungen.
Sie nahm das Buch wieder zur Hand. Als sie bei den Einträgen vom Mai angelangt war, schloss sie die Augen. Karl Felderer war ganz und gar von seinen Zwängen beherrscht worden. Elsbeth Hochleitners Instinkt hatte die Frau nicht getrogen. Ihr Misstrauen gegen Karl Felderer war vollkommen berechtigt gewesen.
Felderer verbreitete sich in leutseligem Tonfall, wie einfach es doch gewesen war, seinem besten Freund, Justus’ Vater, vor ihrer letzten gemeinsamen Tour das Medikament, das ihn hätte retten können, aus dem Rucksack zu entwenden.
Justus’ Vater hatte seinem Sohn seine Krankheit vererbt. Nicht die Epilepsie. Die auch, aber vor allem sein Gottvertrauen in den falschen Mann. Das war ein tödlicher Fehler gewesen. Elsbeth hatte wahrscheinlich schon lange gespürt, dass mit diesem netten Onkel Karl etwas nicht stimmte. Hätte sie ihn anzeigen sollen? Lissie ließ das Buch sinken. Eine Anzeige hätte nichts gefruchtet, nur ihren Enkel noch mehr gegen sie aufgebracht. Die Hochleitnerin hatte ja keinerlei Beweise gehabt.
In den Monaten nach der Tat machte sich Felderer in seinem Mordbuch über die Dummheit der Leute lustig. Besonders witzig fand er, dass viele an einen Selbstmord glaubten. Felderer mokierte sich, wie einfach es gewesen war, den Ablauf des Unfalls, den er hinterher zu Protokoll gab, ein wenig zu türken.
Aber in den Wochen nach dem Unglück, als die Leute nicht mehr so viel darüber sprachen und die Polizei die Ermittlungen einstellte, nahmen die Einträge einen immer enttäuschteren, dann sogar wütenden Tonfall an. Felderer begann zu realisieren, dass er zwar den perfekten Mord begangen, aber sein eigentliches Ziel nicht erreicht hatte. Im Blick seines Freundes hatte bloß ein stummer Vorwurf gelegen. Die Todesangst, auf die Karl Felderer anscheinend so gehofft hatte, die hatte gefehlt.
Plötzlich erinnerte sich Lissie an ihr einziges Zusammentreffen mit Felderer. Wie erpicht er darauf gewesen war, den Gemütszustand des jungen Kellners zu erfahren, der sich am Tag von Lissies Anreise nach Meran mit dem Auto überschlagen hatte! Richtig gierig hatte er da gewirkt.
Gab es vielleicht doch ein Mörder-Gen? Hatte Emil Felderer seinem Sohn den Drang vererbt, Menschen zu töten, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen? Lissie ließ den Kalender auf den Schreibtisch fallen, als ob er kontaminiert wäre. Es gab darüber zwar keine Hinweise in diesem Mordbuch, aber Lissie war davon überzeugt, dass Justus’ Vater nicht Karls einziges Opfer geblieben war.
Lissie überkam ein Frösteln. Wie viele Menschen waren es gewesen, die in seiner Gegenwart einen tödlichen Unfall gehabt hatten? Bestimmt hätte er auch mit Justus nicht aufgehört. Karl Felderer wäre wohl auch weiterhin seiner letzten Wahrheit auf der Spur geblieben.
DREIZEHN
Sonntag, 15. Mai
Lissie bremste scharf und bog nach rechts auf den Kornplatz ab, dass der Kies nur so spritzte. Ein Maronenverkäufer sprang entsetzt zur Seite und suchte hinter seinem Wagen Schutz. Absolutes Halteverbot auf dem gesamten Platz, aber das juckte Lissie heute nicht. Sie hatte vor, Pavarotti einen Abschiedsbesuch abzustatten. Seine Fenster gingen direkt auf den Kornplatz hinaus, er würde schon dafür sorgen, dass sie nicht abgeschleppt wurde.
Lissie fegte raumgreifend vorbei an Brunthaler und Emmenegger, die an ihren Schreibtischen saßen und erstaunt aufsahen, als Blätter von ihren Schreibtischen hochwirbelten. Pavarotti stand neben seinem Schreibtisch und war gerade dabei, seinen Mantel auszuziehen.
»Ich komme aus dem Krankenhaus«, sagte Pavarotti niedergeschlagen. »Er redet immer noch nicht.« Pavarotti massierte seine Nackenmuskulatur und ließ sich schwer in seinen Schreibtischsessel fallen. »Mir wär lieber, er
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