Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
versetzte Lissie, um den Alten weiter zu reizen, »findig war De Gasperi schon. Wie schlau er das gedeichselt hat – als autonome Provinz das Trentino-Alto Adige zu nehmen, in dem die Südtiroler gegenüber den Italienern hoffnungslos in der Minderheit waren.«
»Ja, ein typisch welscher Charakter, nichts als Winkelzüge und Gaunereien«, brummte Kirchrather angewidert. »Das Statut war eine Katastrophe. In der Verwaltung änderte sich gar nichts, die alten Faschisten blieben einfach auf ihren Posten sitzen. Und die Industrie in Meran und Bozen wurde massiv ausgebaut, damit die Welschen einen Vorwand hatten, immer noch mehr italienische Arbeiter nach Südtirol zu holen!«
Er stand auf und ging zu einem schweren Sideboard aus Kirschholz hinüber. Er öffnete eine Schublade und griff nach einer dicken Ledermappe. »Hier«, sagte er bloß und legte die Mappe in Lissies Schoß. »Ein Todesmarsch für Südtirol war’s, diese Zuwanderung der Italiener! Die ›Dolomiten‹ haben’s auf den Punkt gebracht damals.«
Lissie schlug den Ordner auf. Ganz obenauf lag eine mit Klarsichtfolie geschützte Titelseite der »Dolomiten«, Ausgabe vom 15. Januar 1952. Fette Schlagzeilen sprangen Lissie entgegen. Der Herausgeber der Zeitung hatte die Südtiroler aufgefordert, sich jetzt endlich zur Wehr zu setzen.
»Ja, er hat uns mit dem Artikel die Augen geöffnet. Damit fing alles an.«
Schön und gut, dieser allgemeine Geschichtsunterricht. Fieberhaft suchte Lissie einen Ansatzpunkt, um Kirchrather dazu zu bringen, ein paar Namen zu nennen, mit konkreten Informationen herauszurücken. Der Mann musste doch über einen wahren Schatz von Geschichten verfügen! Vielleicht hatte Felderer beim Aufbau der italienischen Industrie in Südtirol mitgeholfen und sich dadurch nach Meinung seiner Landsleute die Hände schmutzig gemacht?
»Diese Fabriken der Italiener«, begann sie. »Da muss es doch auch um Meran herum einige gegeben haben, oder?«
Kirchrather nickte.
»Da haben doch bestimmt auch Südtiroler gearbeitet, wenigstens am Anfang, nicht wahr?«
Der Buchhändler fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um einen Schweißtropfen wegzuwischen, und starrte sie an. Lissie bemerkte ein Netzwerk roter Äderchen auf seinen Wangen, das ihr draußen im Freien gar nicht aufgefallen war. »Nur ganz wenige«, antwortete er schließlich. »Für uns als Südtiroler war es praktisch unmöglich, in den Fabriken der Welschen Arbeit zu bekommen. Wir haben gehungert, obwohl der Krieg längst vorbei und eigentlich genug Arbeit da war.«
»Aber es gab welche, die dort gearbeitet haben?«, insistierte Lissie.
Der Alte zuckte nur mit den Schultern. »Die meisten von uns haben am Anfang probiert, sich mit dem System zu arrangieren. Aber das hat nicht funktioniert. Ob Sie’s nun glauben oder nicht: An Bomben haben wir alle erst viel später gedacht.«
Mittlerweile war Lissie davon überzeugt, dass ihr der Mann ganz bewusst auswich. Auf ihre Fragen servierte er ihr Allgemeinplätze, die sie in jedem Geschichtsbuch nachlesen konnte.
Währenddessen war der Alte aufgestanden und zum Kamin getreten. Unter Schwierigkeiten und mit starrem Rücken beugte er sich hinunter, um die Luftzufuhr etwas zu drosseln. Der leutselige Toni Sailer und der joviale Buchhändler waren verschwunden und hatten einem verbitterten alten Mann Platz gemacht. Lissie fragte sich, welches der echte Kirchrather war oder ob der Buchhändler einfach mehrere Rollen meisterhaft beherrschte. Sie durfte diesem Charakterdarsteller nicht auf den Leim gehen.
Kirchrather stöhnte leise und ließ sich in seinen Sessel sinken. Der Hinweis war eindeutig.
»Sollen wir für heute Schluss machen?«, fragte sie und stand auf.
Dankbar blickte der Buchhändler auf. »Ja, man wird doch schneller erschöpft im Alter«, seufzte er und stemmte sich wieder hoch. »Aber Sie müssen wiederkommen. Über das Vorgeplänkel sind wir beide ja noch nicht hinaus. Der Tusch kommt noch.« Er zwinkerte. Widerwillig musste Lissie lachen. Der Toni Sailer war wieder da.
Als er aufstand, um sie hinauszubegleiten, sagte Kirchrather: »Sie haben mich doch nach Leuten gefragt, die damals eine wichtige Rolle gespielt haben.« Er zeigte auf die Aufnahme über dem Kamin. »Der Jörg Klotz, der war nicht nur ein guter Freund Ihres Opas, sondern er war Gründungsmitglied des Befreiungsausschusses und einer unserer wichtigsten Leute damals. Und Sie wollen von ihm noch nie gehört haben. Wir sprechen uns noch, Frau von
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