Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
war. Unschlüssig wandte er sich zum Gehen. Die Unterhaltung weiter zu beobachten, war sinnlos, er sollte schleunigst seine eigenen Ermittlungen fortsetzen. Aber wie? Bisher gab es kein erkennbares handfestes Motiv. Die Tat hätte jeder, der tollkühn oder verzweifelt genug war, begehen können. Er musste schnellstens die Tatzeit besser eingrenzen und Alibis recherchieren.
Er streifte kurz gedanklich die Renzingerin. Er war davon überzeugt, dass sie den Toten nicht erst am Morgen gefunden hatte. Aber warum hatte sie gelogen? Schräge, für Außenstehende total unverständliche Gründe, warum ihm Lügen aufgetischt wurden, das war typisch für die Hiesigen. Es hatte keinen Sinn, die Frau noch einmal in die Zange zu nehmen.
»In der Früh war’s, als ich ihn gefunden hab, ob du’s nun glaubst oder nicht, Herr Kommissar!«, würde sie wie eine kaputte Schallplatte immer wieder von sich geben und keinen Zentimeter von ihrer Geschichte abweichen. Fast sah er ihre versteinerte Miene vor sich. Er würde die Renzingerin erst festnageln können, wenn er mehr wusste.
Pavarotti hielt kurz inne, dann überquerte er die Lauben Richtung Sparkassenplatz. Er beschloss, erst einmal mit Niedermeyer zu sprechen. Der Schuhhändler und dieser unbekannte Italiener, die in der Mordnacht in der Renzinger Weinstube zusammen getrunken hatten, waren die einzigen vielversprechenden Anhaltspunkte, die ihm im Moment noch blieben. Gut, da war noch Lissies Spurensuche in der Familiengeschichte der Felderers. Er seufzte. Es konnte nicht mehr viel mit ihm los sein, wenn er darauf hoffen musste, dass eine deutsche Touristin ihn in seinen Ermittlungen weiterbrachte.
Der vergangene Abend kam ihm plötzlich wieder in den Sinn, und der Hall ihrer zornigen Stimme klang leise in seinem Kopf nach. Selbstverständlich hatte er sie überprüfen müssen, und es war allemal ehrlicher gewesen, sie davon in Kenntnis zu setzen, als es stillschweigend zu tun. Aber er brachte auch Verständnis für ihre Reaktion auf. So wie er selbst trug auch Lissie viel Ballast aus ihrer Kindheit mit sich herum. Ihre Augen waren gestern ganz groß gewesen, und er hatte geglaubt, noch etwas anderes in ihnen zu sehen als Zorn, Trauer oder Schmerz. Etwas, das ein Eigenleben führte, wie ein Parasit in einem Körper, und das er nur allzu gut wiedererkannte.
Die Hände tief in den Taschen vergraben, ging er an der Metzgerei Gruber vorbei, ohne die üppige Auslage mit einem Blick zu würdigen. Schöne, fetttriefende Leberkässemmeln übten auf einmal keinen Reiz mehr auf ihn aus.
* * *
Mit banger Erwartung beobachtete Lissie den alten Kirchrather, wie er aufmerksam das kurze Schreiben studierte, das sie ihm im Café gegeben hatte, um ihrer zusammengeschnitzten Story ein bisschen aufzuhelfen. Sie hatte gestern Abend so lange am Telefon genölt, bis sich Alexander, der ganz passabel in altdeutscher Handschrift war, auf seinen Hosenboden gesetzt und während der Nacht einen ziemlich überzeugenden Brief an ihren verstorbenen Großvater getürkt hatte. Den hatte er ihr dann heute Morgen gerade noch rechtzeitig ins Hotel gefaxt. Der Brief war angeblich von einem Freund ihres Opas in der Südtiroler Untergrundszene. Unter dem Machwerk stand »Dein Andi«. Natürlich gab es diesen Andi überhaupt nicht. Im Brief erging sich der getürkte Andi in Befürchtungen, dass die Gewalt eine neue Dimension erreicht habe, und schrieb, dass er zufällig dabei gewesen sei, wie eine Mine einen Jeep mit Carabinieri in die Luft gejagt hatte. Alexander hatte im Internet offenbar im Schnelldurchlauf Berichte von Zeitzeugen gesichtet und sich schamlos bedient.
Lissie sah sich um. Sie befand sich im ersten Stock der Buchhandlung. Kirchrather hatte den Umzug vom Egger hierher vorgeschlagen, angeblich, um Zugriff auf sein Archiv zu haben. Obwohl das bestimmt bloß ein Schachzug Kirchrathers gewesen war, sie auf sein Terrain zu lotsen, hatte Lissie erleichtert aufgeatmet. Seit dem morgendlichen Vorfall, wie sie ihre Anfälle beschönigend titulierte, spürte sie eine heftige Abneigung gegen das Café Egger.
Sie beobachtete Kirchrather dabei, wie er las. Vorhin hatte ihm sein breites Lächeln etwas Wölfisches verliehen. Hier, in seinem Büro, machte Kirchrather bloß noch den Eindruck eines gut erhaltenen älteren Herrn mit einer betont jovialen Art, die an den Rändern zum Unangenehmen hin ausfranste.
Sie stand auf und trat näher an den offenen Kamin heran, in dem ein gemütliches Holzfeuer prasselte.
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