Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
und sich eine aushäusige Brotzeit gönnten. Vermutlich war das für die zwei Luxus in Reinformat.
Als Kontrastprogramm standen zwei junge Mädchen im Dirndl in der offenen Tür zum Gastraum und schwatzten. Nicht mehr lange, dachte Lissie. In einer halben Stunde war Mittagszeit. Gegen ein Uhr dürfte der Ansturm der Ausflügler seinen Höhepunkt erreichen. Die zwei Bedienungen würden ein Essen nach dem anderen auf die Terrasse schleppen und auch bei den Getränkebestellungen kaum hinterherkommen.
Das oberhalb von Meran gelegene Bergdorf Hafling und die noch höher liegenden Almen waren bei den Touristen ungemein beliebt. Man konnte mit dem Auto nach Hafling hinauffahren, den Wagen bequem auf einem großen, bewachten Parkplatz abstellen und dann je nach Laune und Fitness verschiedene landschaftlich reizvolle Aufstiege unternehmen.
Lissie pellte sich aus ihrer Wanderjacke und zog einen dicken Wollpulli aus ihrem Rucksack hervor. Sie hatte keine Lust, sich zu erkälten. Der heutige Tag war der erste ihres bisherigen Aufenthalts, dessen Witterung mit viel gutem Willen als Wanderwetter durchgehen konnte. Der Regen hatte aufgehört, jedenfalls für den Moment. Ein paar Sonnenstrahlen kämpften sich hin und wieder durch. Aber es war immer noch kühl und bedeckt.
Nachdem sie sich ein paar Minuten Ruhepause gegönnt hatte, schulterte Lissie ihren Rucksack und machte sich an den zweiten Teil des Aufstiegs.
Sie wollte zu den »Stoanernen Mandln«, einem knapp über zweitausend Meter hohen Bergrücken. Den Namen trug er wegen der vielen Steinmännchen, die irgendjemand da oben aufgeschichtet hatte. Was es mit diesen »Mandln« auf sich hatte, wusste sie bis heute nicht. Wegmarken konnten es nicht sein, dafür waren es einfach zu viele. Merkwürdig, dachte Lissie. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie die Lösung dieses Rätsel damals, vor vielen Jahren, interessiert hatte. Komisch. Sie war doch schon als junges Mädchen von ihrer Neugier für alles Mögliche praktisch aufgefressen worden.
Lissie schüttelte den Gedanken ab. Wahrscheinlich waren bei ihrer ersten Bergtour hier herauf andere Dinge wichtiger gewesen. Als Lissie mit zwölf begonnen hatte, mit ihrem Vater die Meraner Gegend zu erkunden, waren die Stoanernen Mandln ihr erster Zweitausender gewesen. Ihr Vater war auf ihre »Erstbesteigung« mächtig stolz gewesen, das hatte sie ihm deutlich angesehen. Sie erinnerte sich noch heute an seinen Gesichtsausdruck, obwohl es so lange her war.
Die Trageriemen des Rucksacks fingen an, schmerzhaft in ihre Schultern einzuschneiden und brachten Lissie in die Gegenwart zurück. Sie wand sich beim Gehen und versuchte dabei ihre Rückenmuskeln zu lockern. Sie hätte sich Zeit lassen und in Ruhe ihren Wanderrucksack packen sollen. Stattdessen hatte sie sich nach dem Frühstück im Hotel ihren kleinen Stadtrucksack gegriffen, ihn viel zu vollgestopft und war wie in Panik aus dem Haus gerannt.
Ihr war plötzlich alles zu viel geworden. Bloß raus aus der mit Erinnerungen überfrachteten Meraner Altstadt, weg von diesem mysteriösen Mordfall mit seinen undurchsichtigen Figuren wie diesem Kirchrather, weg von ihren Panikattacken. Und weg von Pavarotti. Ja, ganz besonders und in erster Linie weg von dem.
Nur ihren Vater, den konnte sie bei keiner Bergtour abschütteln. Das zu versuchen, war sinnlos. Sie spürte ihn schon die ganze Zeit hinter sich; ihr Gehör meldete ihr seinen extrem leichten, sicheren Tritt als kaum wahrnehmbaren Nachhall ihrer eigenen Schritte. Lissie stach mit ihrem Wanderstock hinter sich. »Bleib weg, lass mich in Ruhe!« Sie erinnerte sich, dass ihr Vater einen Wanderstock auch bei den schwierigsten Touren nicht gebraucht hatte, geschweige denn bei einem Spaziergang wie diesem hier. Im Gegensatz zu ihrem Vater hätte sie Pavarotti mühelos schon während der ersten fünfzig Höhenmeter abhängen können. Um den Dicken auf Distanz zu halten, brauchte sie nicht wie eine hysterische Bergziege den Weg hinaufzurennen. Sie zügelte ihr Tempo etwas, versuchte ihren Rhythmus zu finden und ihren Atem darauf abzustimmen.
Sie durchquerte mehrere Gatter, lief über nasse Almwiesen, an Gehöften vorbei. Ein Schäferhund stellte sich ihr in den Weg. Doch als sie näher kam, begann er ganz freundlich mit dem Schwanz zu wedeln. Gegen jeden gesunden Menschenverstand beugte sie sich zu ihm herunter. Das Tier drückte seine feuchte Schnauze an ihren Ärmel und schnüffelte interessiert an ihrer Hand, dann an ihrem
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