Commissario Pavarotti trifft keinen Ton - Kriminalroman
Rucksack.
Der Wind frischte auf, sonst war es still. Lissie fühlte sich auf einmal ganz allein auf der Welt. Auch ihr Vater war verschwunden. Vielleicht hat ihn der Hund verscheucht, dachte sie. Ihr Vater hatte Tiere generell nicht leiden können, Hunde schon gar nicht.
Lissie begann das Gehen zu genießen und fiel bald in den gleichmäßigen Tritt, den sie sich damals, als Teenager, angeeignet hatte.
Auch ohne so zu rennen wie vorhin, legte sie doch ein ziemlich flottes Tempo hin und erreichte nach zwei Stunden das Vöraner Joch. Die Sicht war schlecht hier oben. Der Nebel hatte sie bei ihrem Aufstieg schon eine ganze Weile begleitet, aber jetzt, am höchsten Punkt der Wanderung, hüllte er sie völlig ein. Lissie fühlte sich wie in nasskalte Watte gepackt, die über ihre Haut streifte und sie erschauern ließ.
Sie konnte jetzt nicht mehr als ein paar Meter weit sehen. Als sie weiterging, tauchte plötzlich ein Steinmann nach dem anderen aus den Nebelfetzen auf. Mal streckte ihr einer von links, mal von rechts den steinernen Kopf entgegen, mal kollerten ihr wie von selbst ein paar Kiesel in den Weg. Diese Steinmänner waren alle miteinander ziemlich altersschwach und marode. Ihrer Hinfälligkeit zum Trotz schienen sie Lissie narren zu wollen, fast meinte sie im Wind ein leises Kichern zu hören: »Bei mir geht’s lang!« – »Nein, bei mir, bei mir!« – »Alles falsch, hierher!«
Der Bergrücken, der in hellem Sonnenschein zweifellos einen harmlos-behäbigen Eindruck machte, wirkte auf einmal gespenstisch, eine Art bizarrer Friedhof mit verfallenden Steinhaufen.
Nur gut, dass sie, die furchtlose Lissie, sich nicht durch ein paar Nebelschwaden aus der Fasson bringen ließ. Außerdem war der Weg ja unschwierig. Sie würde schon den Rückweg zum Möltner Kaser finden; die ungefähre Richtung wusste sie noch von damals. Und wenn sie sich trotzdem verlief, na wenn schon. Hier gab’s keine Abgründe oder Felsabstürze.
* * *
Drei Stunden später war Lissie völlig erschöpft und bis auf die Knochen durchgefroren. Sie wusste nicht mehr, über wie viele Viehzäune sie geklettert war. Immer wieder war sie unmarkierten Trampelpfaden gefolgt, die aber nur bis zur nächsten Weide oder zu windschiefen, unbewohnten Almhütten geführt hatten. Die boten ihr keinen Unterschlupf, denn die Türen waren mit Schlössern gesichert und die Fenster meistens vernagelt. Die Bauern waren hier oben anscheinend paranoid. »Die tun ja gerade so, als horteten sie die Kronjuwelen und nicht bloß ein paar blöde Strohballen«, giftete Lissie halblaut.
Seit ein paar Minuten versuchte sie sich mental an die Vorstellung heranzutasten, im Freien übernachten zu müssen. Es dämmerte bereits. Ihr blieb ungefähr noch eine halbe, mit viel Glück eine Dreiviertelstunde.
Kein Dach über dem Kopf. Allein bei dem Gedanken schlugen ihre Zähne aufeinander. Ihr war bereits jetzt eiskalt, ihre Zehen spürte sie schon seit einer Stunde nicht mehr. Wie sollte das erst nachts werden? Eins war klar: Sie würde sich schauerlich erkälten. Falls nicht doch noch eine rettende Hütte in Sicht kam, die bewirtschaftet war. Oder zu der sie sich wenigstens irgendwie Zutritt verschaffen konnte.
Den Möltner Kaser hatte Lissie inzwischen verpasst, so viel stand fest. Sie war ziemlich stark abgestiegen, auf jeden Fall mehr als fünfhundert Meter. Wo in aller Welt befand sie sich nur? Ihr ohnehin nicht besonders gut ausgeprägter Orientierungssinn hatte sie heute total im Stich gelassen. Daran war natürlich der verdammte Nebel schuld.
Mittlerweile war es ziemlich dunkel. Ohne groß nachzudenken, bog sie in einen anderen Weg ein, der ihren Trampelpfad querte. Es handelte sich um eine ziemlich breite Schotterpiste. Aber nach diesem fürchterlichen Nachmittag, der ihre Hoffnungen, der nächste Pfad könnte endlich der richtige sein, reihenweise hatte platzen lassen, hatte Lissie keine Kraft mehr für eine neue Portion Optimismus. Sie trottete bloß noch stumpf vor sich hin. Wenn sich der Nebel nicht etwas gelichtet und der Vollmond wie eine riesige Kugellampe direkt über ihr gestanden hätte, wäre sie garantiert an dem verwitterten Holzschild vorbeigelaufen. »Leadner Alm 5 Min.« stand da. Die Spitze des Wegweisers zeigte aber nicht in ihre, sondern in die Gegenrichtung, bergaufwärts.
Dass sie in ihrem erschöpften Zustand noch einmal aufsteigen musste, war Lissie jetzt völlig schnurz. Ihren höllisch brennenden Muskeln zum Trotz schoss sie die Steigung
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