Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
verstärkte das kriegerisch-männliche
Bild, das der Oberst bot. Die Mullbinde in seinem Gesicht
ließ an blutige Säbelduelle oder heldenhafte
Schlachtszenen denken. Hier war, signalisierte der Verband, ein
Mann, der sein Leben nicht schonte, wenn es um seine Ehre oder die
des Allerhöchsten ging. Die Mullbinde war besser als jeder
Orden. Tron fragte sich, was für eine Geschichte der Oberst
denjenigen, die sich nach seiner Verletzung erkundigten,
auftischte.
Er gab dem Oberst die
Hand und forderte ihn auf, sich wieder zu setzen. Bossi hatte sich,
Notizblock und Stift in der Hand, auf einen der Stühle vor den
Aktenschränken zurückgezogen. Nachdem Tron hinter seinem
Schreibtisch Platz genommen hatte, eröffnete er das
Gespräch. «Sie wollten eine Aussage zum Tod von
Signorina Calatafimi machen, Herr Oberst?»
Oberst Stumm von
Bordwehr neigte höflich den Kopf. «Das ist
korrekt.»
«Würden Sie
mir verraten, wie Sie von ihrem Tod erfahren
haben?»
«Ich war gestern
Abend mit ihr verabredet.»
«Wie
bitte?» Tron gab sich keine Mühe,
seine Überraschung zu verbergen. «Sie waren mit
...»
«Mit ihr
verabredet», wiederholte der Oberst geduldig. «Als sie
nicht erschienen ist, habe ich Erkundigungen eingezogen und
erfahren, dass sie unter unappetitlichen Umständen ermordet
worden ist.»
Tron fragte sich, auf
welche Weise Stumm von Bordwehr Erkundigungen eingezogen hatte und
wer hier in der Questura für das Militär die Ohren
spitzte. Er hatte immer vermutet, dass die Kommandantura
Informanten im Polizeipräsidium hatte, war aber nie an den
Punkt gelangt, bestimmte Personen zu verdächtigen. Dann fragte
er sich, aus welchen Gründen Signorina Calatafimi mit dem
Oberst verabredet gewesen sein konnte.
«Es soll zwei
Männer geben», sagte Tron in beiläufigem Ton,
«zu denen Signorina Calatafimi ein ganz spezielles
Verhältnis hatte. Er sah den Oberst an. «Kann es sein,
dass Sie einer davon sind?»
«So ist
es», antwortete der Oberst in ebenso beiläufigem Ton. Er
lächelte freundlich. «Der andere Mann war Signor
Grassi.»
Einen Moment lang war
Tron überzeugt, dass er sich verhört hatte. «Der
Mann, mit dem Sie die Auseinandersetzung in der Questura
hatten?»
Der Oberst nickte.
«Genau der.»
«Dann ging es
bei Ihrem Streit in Wahrheit gar nicht um die Trikolore im
Knopfloch, sondern um Signorina Calatafimi?»
«Offenbar haben
Sie von Signorina Querini erfahren, dass Signorina Calatafimi zwei
Verehrer hatte, die sie heiraten wollten», sagte der Oberst.
«Und jetzt denken Sie, Signorina Calatafimi hätte sich
für mich entschieden, worauf Signor Grassi sie ermordet hat.
Aber so war es nicht.» Er schüttelte lächelnd den
Kopf. «Signorina Calatafimi hat ebenfalls für uns
gearbeitet.»
Tron sah, wie Bossi
ungläubig die Augen aufriss.
«Das ist der
Grund», fuhr der Oberst ungerührt fort, «aus dem
ich sie hin und wieder getroffen habe.» Er zögerte einen
Augenblick, so als überlegte er, ob er Tron und Bossi
vertrauen konnte. Dann sagte er: «Ich leite eine
Unterabteilung der Militärstaatsanwaltschaft in Verona, die
...» Der Oberst brach den Satz ab, weil er offenbar nicht
wusste, wie er ihn beenden sollte, ohne zu viel von seiner
Tätigkeit preiszugeben. «Für eine Abteilung, die
politische und militärische Informationen sammelt»,
ergänzte er schließlich.
Tron holte tief Luft.
Er hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl im Magen —
als würde man ihn bei einer Lüge ertappen. Er war
überzeugt davon, dass in Verona noch ein Dossier über ihn
existierte. Tron hatte in den glorreichen Zeiten der venezianischen
Revolution, als es der Stadt gelungen war, sich ein Jahr lang von
der österreichischen Fremdherrschaft zu befreien, in
der Assemblea gesessen, dem
revolutionären Parlament. Als während der Belagerung
Venedigs die Lebensmittelvorräte immer knapper wurden und die
Leute anfingen, ihre Hunde und Katzen zu verspeisen, hatte seine
Aufgabe darin bestanden, für eine gerechte Verteilung der
Lebensmittel im Sprengel von San Stae zu sorgen. Ob Stumm von
Bordwehr über die bescheidene Rolle, die er damals in der
venezianischen Revolution gespielt hatte, informiert war? Tron
vermutete, dass er seine Akte inzwischen gelesen hatte. Er
räusperte sich. «Und Signorina Calatafimi war eine Ihrer
Informantinnen?»
Der Oberst nickte.
Dann sagte er wieder etwas, das Tron überraschte.
«Grassi hat ebenfalls für uns
gearbeitet.»
Tron holte zum zweiten
Mal tief Luft. «Und in welcher
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